Rechenleistung: Mercedes E-Klasse

Es ist schon krass, wie die Zeit und die Entwicklung voranschreiten. Vor 3,5 Jahren hatte ich das erste Mal ein Auto mit Abstandstempomat. Ich war hin und weg, für mich war es DAS Assistenzsystem schlechthin. Und heute? Abstandstempomat? Tzz, das ist für die neue E-Klasse kalter Kaffee. Die elegante Limousine schlägt das nächste Kapitel auf, was teilautonomes Fahren betrifft. Im Rahmen meiner Bachelorarbeit, die sich mit autonomen Fahren befasst, hatte ich ein Gespräch mit einem Experten, der mir gesagt hat, dass dereinst der Antrieb eines Autos völlig egal ist. Innerlich schüttelte ich dabei den Kopf. Doch seit ich die E-Klasse gefahren bin, muss ich ihm recht geben. Dieser Test war nicht nur technisch eine neue Erfahrung, ich habe das Auto auch anders wahrgenommen, als ich es sonst tue.

Mein Interviewpartner war Frank M. Rinderknecht, seines Zeichens Gründer und CEO von Rinspeed. In der Branche ist er als Visionär bekannt. Er behauptet, dass eines Tages die Motorleistung und sonstige Details zum Antrieb völlig egal seien. Das Design muss stimmen. Das Erlebnis muss stimmen. Der Service muss da sein. Ich als Petrolhead und Dezibel-Exhibitionist konnte ihm da überhaupt nicht zustimmen. Natürlich ist der Antrieb wichtig! Natürlich zählt die Leistung! Und Services. Was sind Services? Hauptsache, ein Auto klingt gut!

Mercedes E-Klasse
Die Limousine ist zeitlos designt.

Doch dann beginnt meine Erfahrung mit der E-Klasse. Ich weiss, dass sie einen Dieselmotor hat, der Klang und natürlich der Drehzahlmesser verraten es mir. Aber bis zum Ende des Tests wusste ich nicht, wieviel Leistung der Motor hat, geschweige denn, welches Drehmoment er generiert. Und ist es jetzt eigentlich ein 2,2-Liter oder ein 2,0-Liter Motor? Höchstgeschwindigkeit? Beschleunigungswerte? Keinen blassen Schimmer. Ich wusste lediglich, dass die E-Klasse über neun Gänge verfügt – aber auch nur, weil mir der aktuelle Gang im Kombiinstrument angezeigt wurde. Aber was zeigt dies mir, dass ich mich nicht sofort für diese elementaren, technischen Eigenschaften interessierte? Ganz einfach: In diesem Auto gibt es Wichtigeres.

Mercedes E-Klasse
Die E-Klasse hebt Autofahren auf ein neues Niveau.

Die E-Klasse profiliert sich nicht damit, besonders viel Leistung zu haben oder gar, einen besonderen Klang zu generieren. Bereits beim Einsteigen fühlt man sich wie in eine andere Welt versetzt. Gestochen scharfes Cockpit, eine wunderschöne Ambientebeleuchtung, High-End Audio, Sportsitze wie ein Massanzug und feinste Materialien, wohin das Auge reicht. Einen schönen Kontrast in diesem progressiven Cockpit setzt die klassische, analoge Uhr. Schade, dass sie sich so weit unten befindet. Man sitzt auch im Fond vorzüglich, allerdings dürfte die Beinfreiheit angesichts fast fünf Meter Länge etwas grosszügiger ausfallen.

Mercedes E-Klasse
Wenn Hightech mehr begeistert, als das an sich schon tolle Fahrverhalten…

Doch dieser Hauch von Kritik ist schon fast wieder vergessen, sobald sich die E-Klasse in Bewegung setzt. Wie gesagt, spielt der Motor eine eher untergeordnete Rolle. Obwohl es sich um einen Diesel handelt, ist das Aggregat im unteren Drehzahlbereich sehr leise. Auf der Autobahn hört man vom Motor gar nichts. An der Stelle, wo ich vor über drei Jahren voller Begeisterung den Abstandstempomat aktiviert habe, aktiviere ich in der E-Klasse nun den Drive Pilot. Dieses System umfasst eine ganze Bandbreite an Assistenzsystemen und anstatt alle einzeln aufzuzählen, beschreibe ich sie einfach folgendermassen: Das Auto kann, wenn man es darauf anlegt, alleine fahren.

Mercedes E-Klasse
Die Limousinen von Mercedes ähneln sich alle sehr stark.

Natürlich handelt es sich «nur» um ein Assistenzsystem, aber die Fähigkeit der E-Klasse ist verblüffend. Der Abstandstempomat reagiert so geschmeidig, wie nirgendwo sonst. Selbst ziemlich scharfe Autobahnkurven, wie sie in der Schweiz hin und wieder vorkommen, meistert das System ohne Lenkeingriff. Wechselt das angezeigte Tempolimit, so erkennt die E-Klasse dies mittels Kameras und passt das Tempo selbstständig an. Möchte man überholen, so reicht es, den Blinker für zwei Sekunden zu betätigen, dann wechselt die E-Klasse automatisch die Spur, sofern sich kein anderes Fahrzeug im toten Winkel befindet. Um es nochmal zu verdeutlichen: Das alles funktioniert theoretisch ohne Hände am Lenkrad. Hallo autonomes Fahren.

Mercedes E-Klasse
Lichtdesign, das können sie bei Mercedes.

In der Praxis sieht es etwas anders aus. So funktioniert der automatische Spurwechsel bislang nur in Deutschland, da er in anderen Ländern noch nicht homologiert ist. Das Gesetz hinkt der Technik also wieder einmal hinterher. Mercedes arbeitet an der Homologation, jedoch ist noch kein Zeitpunkt in Sicht, an dem der automatische Spurwechsel freigeschaltet wird. Die Verkehrszeichenerkennung ist ausserdem noch nicht perfektioniert, sodass das Auto schon mal ein Verkehrszeichen «erkennt», wo gar keines ist (oder für mich keine Gültigkeit hat) und das Tempo entsprechend anpasst, obwohl es das nicht sollte.

Mercedes E-Klasse
Die dezente Sportlichkeit der AMG-Line passt perfekt – wenn etwas an diesem Auto stört, dann der CH-Kleber.

Und natürlich gehören die Hände ans Lenkrad. Ich habe im Test das System an seine Grenzen geführt und ja, man kann es überlisten, so dass das Auto einem nicht mehr anpiepst, wenn man freihändig fährt. Ich appelliere jedoch an alle da draussen, solche Spielereien zu unterlassen. Ich war während dem Test stets zu 100% aufmerksam. Solch extrem fortschrittliche Systeme animieren natürlich dazu, sich dem Smartphone oder sonst was zu widmen. Ich kann nur betonen: Lasst es, ansonsten endet ihr womöglich wie der Tesla-Fahrer in Florida, der auf die harte Tour erfahren musste, dass heutige Serienautos eben noch keine autonomen Autos sind, obwohl so schöne Namen wie Autopilot oder Drive Pilot dies suggerieren können.

Mercedes E-Klasse
Die LED-Scheinwerfer von Mercedes gehören zum Besten, was es derzeit gibt.

Aber nachdem ich die E-Klasse erlebt habe – und ich sage bewusst erleben und nicht gefahren – verstehe ich die Aussagen von Rinderknecht plötzlich. Ich bin im Auto gesessen und habe das Erlebnis genossen. Das Handy ist via Apple Carplay verbunden, das Auto fährt im Drive Pilot teilautonom und ich geniesse ultimativen Komfort an Bord. Ich bin rundum zufrieden. Motorleistung? Höchstgeschwindigkeit, Beschleunigung? Immer noch keine Ahnung und es interessiert mich im Moment auch nicht. Wozu? Das Auto fährt, ich habe mein Erlebnis. Uns interessiert schliesslich auch nicht, was für ein Prozessor im Smartphone verbaut ist, Hauptsache, das Ding funktioniert anständig. Analog dazu könnte dereinst, in weiter Ferne, die Motorleistung eines Autos, welches kein Sportwagen ist, völlig irrelevant werden – behauptet Rinderknecht und ich glaube nach meinem Erlebnis mit der E-Klasse, dass er Recht haben könnte. Rechenleistung wird eines Tages vielleicht stärker kommuniziert als Motorleistung.

Mercedes E-Klasse
Nobles Interieur mit hochwertigem Widescreen-Cockpit und wunderschöner, einstellbarer Ambientebeleuchtung.

Aber so weit sind wir in der E-Klasse noch nicht, obwohl sie ein weiteres Highlight zu bieten hat: Ferngesteuertes Parkieren. Das Auto erkennt eine Parklücke, anschliessend kann man aussteigen, das Smartphone zücken und zuschauen, wie das Auto sich wie von Geisterhand perfekt in die Lücke bugsiert. Umgekehrt funktioniert es übrigens auch, falls man von einem Trottel zuparkiert worden ist und kaum mehr einsteigen kann: Auto mit dem Schlüssel öffnen, Smartphone zücken, Motor aus der Ferne starten und das Auto fährt aus der Parklücke heraus, allfälligen Hindernissen weicht es geschickt aus. Mercedes ist noch sehr vorsichtig, sprich, das Auto bewegt sich beim Remote Parking sehr langsam. Wenn man im Auto sitzen bleibt, geht es schneller. Aber dass sich ein Auto ohne Fahrer an Bord bewegt, zeigt einfach eindrücklich, was schon heute technisch möglich ist.

Mercedes E-Klasse
Über die Touchpads am Lenkrad können die beiden Bildschirme bedient werden. Clever!

Das Schöne ist, dass sich die E-Klasse auch ohne Hightech sensationell fährt. Die Lenkung ist sehr präzise, das Handling trotz der Länge erstaunlich direkt. Zwar federt die E-Klasse nicht ganz so komfortabel wie erwartet, aber das kommt dafür der Sportlichkeit zu gute. Der Basisdiesel ist zwar ziemlich kräftig, aber für ernsthaftes sportliches Fahren reicht er nicht aus. Dafür wechselt die 9-Gang Automatik entweder blitzschnell oder butterweich die Gänge. Trotz der vielen Gänge verschaltet das Getriebe sich nie und weiss stets, was es tun muss. Auf der Autobahn bei Tempo 130 hält es den Motor bei sensationellen 1500 Umdrehungen, was trotz teils unregelmässigem Fahren im Testbetrieb in einem Testverbrauch von 6,0 l/100 km resultiert, der sich, das garantiere ich, ohne Weiteres unterbieten lässt.

Mercedes E-Klasse
Schmeichelt dem Auge, den Händen und den Ohren.

Alle jene, deren Schulzeit noch nicht so lange zurückliegt, wissen wahrscheinlich, dass für die Bestnote 6 nicht zwingend die maximale Punktzahl benötigt wird. Der eine oder andere kleine Fehler liegt durchaus drin und wenn ich die E-Klasse nach demselben Massstab bewerte wie Prüfungen, dann bekommt sie ebenfalls die Note 6. Man kann von den Assistenzsystemen halten, was man will, aber die Art und Weise, wie sie in der E-Klasse funktionieren, ist ganz hohe Schule. Zudem fährt sich das Auto super, ist piekfein verarbeitet, extrem leise und ausserordentlich sparsam. Wer sich für einen stärkeren Motor entscheidet, bekommt einerseits eine sportliche Limousine, anderseits ein hochfortschrittliches Auto. Mit der Leistung wird auch der Preis steigen, denn bereits mit dem Einstiegsdiesel kostet der sehr gut ausgestattete Testwagen 93’315 Franken. Schade finde ich einzig, dass Mercedes die Familienzugehörigkeit stark übertreibt. Die E-Klasse sieht toll aus, aber selbst ich als Kenner kann C-, E- und S-Klasse kaum voneinander unterscheiden. Etwas mehr Eigenständigkeit wäre meiner Meinung nach wünschenswert. Aber sei’s drum. Wer sich übrigens immer noch für die technischen Daten interessiert, findet sie unten im Steckbrief.

Mercedes E-Klasse
Die E-Klasse ist über ihre Klasse hinaus zum Massstab geworden.

Alltag 4.5 out of 5 stars

Wohl kaum ein anderes Auto unterstützt den Fahrer so sehr wie die E-Klasse. Die Raumverhältnisse sind grosszügig, aber nicht überragend.

Fahrdynamik 4 out of 5 stars

Grundsätzlich fährt sich die Limousine vom Handling her durchaus sportlich, aber der Dieselmotor ist nicht für sportliches Fahren gedacht. Schade ausserdem, dass sich das Getriebe nicht in einen rein manuellen Modus schalten lässt.

Umwelt 4.5 out of 5 stars

Trotz einigen sportlichen sowie unregelmässigen Fahrten ist der Testverbrauch von 6,0 l/100 km ein erfreulich tiefer Wert, der sich locker unterbieten lässt.

Ausstrahlung 4.5 out of 5 stars

Die E-Klasse wirkt sehr stimmig: Elegant, aber nicht zu klassisch; sportlich, aber nicht zu auffällig. Schade, kann man sie kaum von den Geschwistern C- und S-Klasse unterscheiden.

Fazit 5 out of 5 stars

+ Extrem edler Innenraum
+ Umfangreiches Infotainmentsystem
+ Top Sportsitze, perfekte Ergonomie
+ Ausgewogenes Fahrwerk
+ Leises Fahrverhalten
+ Teilautonomes Fahren möglich
+ Perfektionierte Assistenzsysteme
+ Schönes Design
+ Erstklassige LED-Scheinwerfer
+ Tiefer Verbrauch

– Hoher Preis
– Kein manueller Modus möglich beim Getriebe
– Verkehrszeichenerkennung teilweise nicht nachvollziehbar

Mängel am Testwagen

– Keine Mängel

Steckbrief

Marke / ModellMercedes E-Klasse
Preis Basismodell / Testwagen57 945 CHF / 93 315 CHF
AntriebDiesel, Heckantrieb
Hubraum / Zylinder1950 ccm / R4
Motoranordnung / MotorkonzeptFrontmotor / Turbomotor
Getriebe9-Gang Automatikgetriebe
Max. Leistung143 kW bei 3800 r/min
Max. Drehmoment400 Nm bei 1600 - 2800 r/min
Beschleunigung 0 - 100 km/h7,3 s
Vmax240 km/h
NEFZ-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz4,3 l/100 km / 112 g/km / A
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz6,0 l/100 km / 156 g/km / +28%
Länge / Breite / Höhe4,92 m / 1,85 m / 1,47 m
Leergewicht1680 kg
Kofferraumvolumen540 l

(Bilder: Koray Adigüzel)

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