Wer im Ausgang einer sehr attraktiven Frau begegnet, den verlässt schnell der Mut, wenn man nicht mit einem besonders ausgeprägten Selbstbewusstsein gesegnet ist. «Die ist doch eh vergeben», oder «bei der habe ich nicht mal den Hauch einer Chance», dürften die häufigsten Zweifel sein. Auch bei der Alfa Romeo Giulia Quadrifoglio hat man sofort das Bedürfnis, ihre Rundungen zu berühren und intim mit ihr zu werden. Doch die muskulösen Kotflügel und fast schon lasziv angeordneten Endrohre machen kein Geheimnis daraus, dass Giulia mit einer harten Hand geführt werden will. Wer allerdings seine Berührungsängste überwinden kann, hat mit der temperamentvollen Italienerin nicht nur eine begnadete Tänzerin an seiner Seite. Auch die neidischen und bewundernden Blicke der anderen sind einem gewiss.
Normalerweise lässt sich über Geschmack streiten, doch wer Giulia nicht attraktiv findet, gehört wohl zu jener Fraktion, die Verbrennungsmotoren am liebsten per sofort verbieten möchte. In meinen Augen gibt es derzeit keine schärfere Limousine, ganz egal, in welcher Klasse. Da können sich Topmodels vom Schlage eines Mercedes CLS oder Maserati Ghibli noch so wichtig machen: Giulia stellt sie alle in den Schatten.
Wer allerdings mit ihr auf Tuchfühlung geht, muss eingestehen, dass man schon besseres erlebt hat. Wer den Mut aufbringt, kann Giulia gerne die Vorteile der plastischen Chirurgie und eines Faceliftings nahelegen – diesen Rat habt ihr aber bitte nicht von mir. Mit Carbon-Zierblenden und grosszügigen Lederverkleidungen im Interieur gibt sie sich zwar sehr chic, doch wer an ihrem Drehregler fürs Infotainment herumfummelt, oder am Griff fürs Handschuhfach herumdrückt, ist in Gedanken wohl bei seinem verflossenen Audi. Wäre Giulia nicht schon Rot lackiert, sie würde angesichts solcher Gedanken wahrscheinlich Rot anlaufen vor Wut und Eifersucht.
Wütend klingt sie beim Start allemal. Der V6 Biturbo knurrt grimmig und klingt definitiv nach mehr als “nur” 2,9 Litern Hubraum. Das Schöne an meiner Giulia ist, dass ich via manuellem Getriebe den Takt selber vorgeben kann. Ich starte also erstmal besonnen, damit wir beide miteinander warm werden können. Man muss schliesslich nichts überstürzen. Und siehe da, die böse Giulia kann ja auch ganz zärtlich.
Im Normal-Modus summt Giulia schön dezent ihr Sechszylinder-Lied, hebt erst sehr spät ihre Stimme und überwältigt einem nicht gleich mit ihrer schieren Kraft. Stattdessen keimt da sogar so etwas wie Fürsorglichkeit auf, wenn sie an der Ampel den Motor abstellt. Ausserdem ist ihr Adaptivfahrwerk im Normal-Modus freundlicherweise so ausgelegt, dass sie den Rücken sanft knetet und nicht auf ihn eindrescht. Mit den optionalen Sparco Schalensitzen hat sie einen jederzeit fest im Griff, allzu füllig sollte man für die schmalen Sitze allerdings nicht sein.
Mit der leichtgängigen Lenkung ist sie ausserdem sehr einfach und präzise zu führen und zickt auch bei engen Verhältnissen nicht gleich rum. Alles andere als zickig ist auch die Kupplung, die einem freundlich dagegen drückt und nicht giftig zuschnappt. Es muss ausserdem nicht immer ein Tête-à-Tête sein, Giulia hat nichts gegen Gesellschaft. Auch die Rücksitz-Passagiere sitzen nicht bedrängt, sondern sind gut aufgehoben. Da scheint die Dame eine sehr gute Erziehung genossen zu haben!
Es gibt den Dynamic-Modus, der die ganze Sache mit verschärfter Gasannahme und strafferem Fahrwerk schon interessanter werden lässt. Doch wer ein besonders intensives Erlebnis möchte, lässt die Verhütung weg und wechselt in den Race-Modus. Im heissesten aller Modi sprengt Giulia ihr Korsett, scheut aber gleichzeitig nicht mehr davor zurück, ihrem Ritter bei Fehlern gewaltig eine zu scheuern, denn: Race-Modus inklusive herzerwärmendem Brüllen und Fauchen gibt es nur ohne Traktionskontrolle und ESP. Da muss man aufpassen, dass man vor lauter Übermut nicht plötzlich von ihr dominiert wird.
Doch Giulia ist eine sehr aktive und mitteilungsfreudige Partnerin. Sie kündet es frühzeitig an, sobald sie die Kontrolle übernehmen möchte und überfällt einem nicht mit einem plötzlich auskeilenden Heck. Das harte Fitnesstraining, was in einer perfekten 50:50 Balance resultiert, zahlt sich an dieser Stelle aus, denn es ist verhältnismässig leicht, einen gepflegten Powerslide mit ihr zu fabrizieren. Dankenswerterweise verkneift sie sich einen gefährlichen Konter in die andere Richtung, wenn man vom Gas geht. Sie hat sogar die Nettigkeit und unterstützt das schnelle Schalten mittels automatischem Zwischengas – aber nur im Race-Modus. Unterstützung erhält also nur, wer mit ihr umzugehen weiss und ihr den nötigen Auslauf gewährt.
Das Fahren im Race-Modus bietet die Intensität und das ungefilterte Fahrgefühl, das heute vielfach verloren geht. Es ist ein bewussteres Fahren, wenn man weiss, dass Giulia einem bei Fahrfehlern nicht entgegen kommt, sondern zuschauen würde, wie es dich ins Verderben stürzt. Aber dass auch so ein Halbstarker wie ich es mit ihr aufnehmen kann, zeigt, dass einfach alles sitzt. Die Gewichtsverteilung, die Aufhängung, die Kraftentfaltung – es ist aufeinander abgestimmt, Giulia bietet ein harmonisches Gesamtbild. Sie wirft dich im Grenzbereich nicht ab wie ein wild gewordenes Pferd, sondern bittet dich mehr oder weniger auffordernd um einen gemeinsamen Tanz.
Im Alltag muss man sich der Wirkung seiner Begleitung bewusst sein. Wer mit so einer gut gebauten Dame unterwegs ist, muss damit rechnen, dass Giulia von Passanten unverhohlen angestarrt wird und manch einer spricht einem auf sie an. Das Interesse ist riesig, schliesslich ist sie nichts Geringeres als das lang ersehnte Comeback von Alfa Romeo. Als Quadrifoglio ist sie ein dreifaches Ausrufezeichen, kommt aus dem nichts und zeigt der ganzen versammelten Premium-Mannschaft, wie man wirklich auf Auto-Enthusiasten zugehen muss.
Als wäre das nicht schon peinlich genug für die anderen, ist die Italienerin auch noch für viel weniger zu haben. Los geht’s bei 88’650 Franken, voll ausgestattet sind 103’500 Franken fällig. Da schicken einen AMG und Konsorten gleich nochmal zur Bank, wenn mal mit so wenig Cash dort aufkreuzt. Allerdings hat Giulia danach ein dringendes Bedürfnis: In meinem kurzen Test sind heftige 15,7 l/100 km geflossen, das waren aber mehrheitlich sehr ambitionierte Fahrten, um es vorsichtig auszudrücken. Mit genügend Selbstdisziplin ist bestimmt ein einstelliger Wert möglich – bleibt halt die Frage, wie glücklich das noch macht.
Es war eine sehr intensive, aber kurze Zeit, da ein Marder Giulia zum Fressen gern hatte und das doofe Tier doch tatsächlich die Elektronik soweit beeinträchtigte, dass die Benzineinspritzung nicht mehr richtig tat und der Motor den Dienst quittierte. Ein abruptes und schmerzhaftes Ende meiner Liaison, aber das fällt unter höhere Gewalt, da kann niemand etwas dafür. Doch was bleibt, sind Erinnerungen…
Alltag
Für ein Sportmodell ist die Handhabung im Alltag erfreulich unproblematisch. Die Ergonomie passt und für die Hinterbänkler gibt es genügend Platz. Einzig die Öffnung für den Kofferraum ist knapp geraten.
Fahrdynamik
Wenn Giulia loslegt, bleibt kein Auge trocken. Der gemeinsam mit Ferrari entwickelte Motor ist sehr drehfreudig, das Handling äusserst agil und präzise. Die Balance ist perfekt und die Rückmeldung vom Auto grandios.
Umwelt
Was soll ich da sagen? So hart, wie Giulia eingesetzt worden ist, waren 15,7 l/100 km irgendwie zu erwarten. Gemütliches Cruisen quittierte der Bordcomputer aber mit einstelligen Werten. Der Normverbrauch von 8,5 l/100 km dürfte aber kaum zu erreichen sein.
Ausstrahlung
So verrucht und doch so hinreissend. Mit den Proportionen und Kurven, die Alfa Romeo mit der Giulia wieder einmal hingezaubert hat, untermauern die Italiener ihr Händchen fürs Design.
Fazit
+ Absolut hinreissendes Design
+ Grosszügiger Innenraum
+ Einwandfreie Ergonomie
+ Bequeme und haltstarke Schalensitze
+ Angenehmes Fahrwerk im Normal-Modus, lässt sich in zwei Stufen verhärten
+ Perfekte Balance
+ Drehfreudiger Motor mit geilem Sound, allerdings nur im Race-Modus
+ Präzises Getriebe und überhaupt: Es gibt eine Handschaltung!
+ Intensive Rückmeldung von der Lenkung
+ Agiles Handling
+ Fairer Preis
– Verarbeitungsqualität teilweise verbesserungswürdig
– Infotainmentsystem ohne Online-Dienste oder Verkehrs-Infos
– Kein Sport-Modus vom ESP
– Etwas lange Schalt- und Kupplungswege
– Enge Kofferraum-Öffnung
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Alfa Romeo Giulia QV |
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Preis Basismodell / Testwagen | 88 650 CHF / 103 500 CHF |
Antrieb | Benzin, Heckantrieb |
Hubraum / Zylinder | 2891 ccm / V6 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Frontmotor / Biturbomotor |
Getriebe | 6-Gang manuell |
Max. Leistung | 375 kW bei 6500 r/min |
Max. Drehmoment | 600 Nm bei 2500 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 3,9 s |
Vmax | 307 km/h |
NEFZ-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 8,5 l/100 km / 201 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 15,7 l/100 km / 371 g/km / +85% (mehrheitlich sehr sportlich gefahren) |
Länge / Breite / Höhe | 4,64 m / 1,87 m / 1,43 m |
Leergewicht | 1705 kg |
Kofferraumvolumen | 480 l |
Bilder: auto-illustrierte
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