Der Audi RS e-tron GT schreibt Geschichte. Zwar erfindet er das (Elektro-)Auto nicht neu, doch er ist das erste RS-Modell, welches keinen Benziner unter der Haube hat. Überhaupt ist er das erste elektrifizierte Performance-Modell von Audi und um diesen Anspruch zu unterstreichen, läuft der RS e-tron GT in den Böllinger Höfen vom Band, wo auch der illustre R8 gebaut wird. Eine reine Eigenentwicklung ist der elektrische GT aber nicht, denn er ist technisch sehr eng mit dem Porsche Taycan verwandt, aber da gäbe es weiss Gott schlechtere Sportwagen-Voraussetzungen als eine Porsche-Plattform. Nichtsdestotrotz wirft dieses Auto natürlich eine ganze Menge Fragen auf: Ein Sportwagen im Öko-Korsett? Sportler oder Familienkutsche mit Bumms? Und last but not least natürlich: Trotz Elektroantrieb ein echtes RS-Modell?
Optisch ist das RS-Modell eher zurückhaltend. Das wirkt angesichts der unglaublich sportlichen Silhouette und des aggressiven Gesichts wie ein schlechter Witz, aber das sind alles Grundzüge des e-tron GT. Die Schnauze ist trotz fehlendem Verbrenner lang, die Backen sind breit, das Heck noch breiter und der Diffusor ist mächtig. Da wird es für das RS-Modell schwierig, überhaupt noch einen drauf zu setzen.
Starke Proportionen
Während ein Audi A7 eine ähnliche Bauform hat, macht der e-tron GT alles eine Spur extremer: Er zieht das Dach viel weiter runter, ist breiter und hat vor allem keine grosse Heckklappe. Ich finde zwar den Begriff viertüriges Coupé ziemlich abgelutscht, aber er passt kaum besser zu einem Auto als zu diesem hier. Der Testwagen setzt mit den Carbon-Akzenten sowie dem Carbon-Dach und dem Black-Pack weitere optische Akzente. Die Bremsen aus Wolfram-Carbid mit den spiegelnden Bremsscheiben sind beim RS-Modell Serie, Porsche lässt grüssen.
Sportwagen-Ergonomie
Im Innenraum ist dann vom grossen Auto auf einmal nicht mehr viel übrig. Vorne sitzt man auf sehr gut ausgeformten Sportsitzen sehr tief und ausgezeichnet ins Auto integriet. Viel Bewegungsfreiheit bleibt aber nicht mehr. Hinten wird es dann ziemlich düster. Das Dach fällt so stark ab, dass es ab 1,80 Meter Körpergrösse arg aufs Haupt drückt. Die Füsse passen zwar unter den Vordersitz, dennoch ist im Fond nicht viel mehr Platz als in einer durchschnittlichen Economy-Class.
Noch düsterer ist das Kapitel Kofferraum. Die Heckklappe ist klein, die Ladekante hoch, der Kofferraum verwinkelt und beim RS-Modell zusätzlich um knapp 40 Liter kleiner. Macht unter dem Strich ein kleinerer und deutlich schlechter nutzbaren Kofferraum als bei einem A3. Der im Verhältnis zur langen Schnauze kleine Frunk rettet da auch nicht mehr viel. Wer den RS e-tron als vollwertigen Wagen für die ganze Familie nutzen möchte, dürfte angesichts dieses Anblicks oder dieser Zeilen leer schlucken.
Kein digitaler Overkill
Das Cockpit selber ist für ein neues Elektroauto und für Audi-Verhältnisse überraschend konventionell ausgefallen. Das Infotainmentsystem setzt auf einen eher kleinen Touchscreen und die Klimabedienung oder die Wahl des Fahrmodus erfolgt gänzlich über Knöpfe. Dickes Like! Damit wirkt der RS e-tron zwar weit weniger futuristisch als die übrige Audi Oberklasse mit ihren zwei Touchscreens, doch die Klima-Einheit ist einfach praktischer. Das Haupt-Infotainment dagegen dürfte etwas fixer auf Eingaben reagieren und der Screen auch etwas üppiger ausfallen. Einwandfrei ist dafür die Sprachsteuerung.
Grand Touring mit Grenzen
Per Definition ist ein Grand Tourer ein üppig motorisierter, sportlicher Wagen mit Langstrecken-Qualitäten. Im Prinzip sind diese Qualitäten im RS e-tron GT vorhanden. Im standardmässigen Comfort-Modus (der Auto-Modus wurde komischerweise verbannt) spricht das Luftfahrwerk geschmeidig an, trotz 21-Zoll-Felgen. Dass man mit dem Fahrpedal eine gewaltige Menge an Drehmoment freisetzen kann, spürt man nicht, da das Pedal überraschend sanft reagiert und auch wenn man mal etwas mehr Gas gibt, der Wagen zwar kräftig, aber gesittet beschleunigt.
Fahrgeräusche sind bei einem Elektroauto ohnehin kein grosses Thema, auch der e-tron GT spult ruhig seine Kilometer ab, obwohl der Geräuschkomfort im e-tron SUV nochmals eine Stufe darüber liegt. Bei den Assistenzsystemen ist der GT state of the art mässig ausgerüstet. Hervorzuheben sind diebezüglich der Nachtsicht-Assistent, der zuverlässig vor potenziellem Wildwechsel warnt sowie das Laser-Matrix-Fernlicht, mit einer top Präzision und Reichweite.
Stichwort Reichweite: 472 Kilometer weit soll der Wagen gemäss WLTP kommen, was natürlich einmal mehr völliger Unfug ist, wenn man weite Strecken auf der Autobahn bei angenehmem Reisetempo, sprich Tacho 130 km/h, zurücklegt. Zwar ist der e-tron GT sehr windschlüpfrig, aber sein Gewicht von 2440 Kilo muss dennoch bewegt werden. Auf der Langstrecke ist eine Reichweite von rund 360 Kilometer realistisch. Zwar kann der e-tron GT mit bis zu 250 kW nachgeladen werden, dennoch ist das Thema Langstrecke mit diesem Auto meiner Meinung nach immer noch nicht da, wo es sein sollte.
Der Berserker
Der RS e-tron GT ist also ein komfortabler Reisewagen, doch er ist auch ein RS-Modell. Also Wechsel in den Dynamic-Modus. Vor dem Kickdown empfiehlt es sich, entweder den Kopf an die Kopfstütze zu legen oder die Nackenmuskulatur massiv vorzuspannen, weil: Bumm! Die Beschleunigung ist echt brachial und ist im ersten Moment so heftig wie ein freier Fall, sodass es sogar zu einem Gefühl der Leichtigkeit in der Magengegend kommt.
Wie der Porsche Taycan auch ist der RS e-tron in der Lage, diese extreme Kraft immer und immer wieder zu generieren, selbst bei sehr tiefem Ladestand, diesbezüglich ist das Auto wenig zimperlich. Unterstrichen wird die Beschleunigungsorgie mit einem geschwindigkeitsabhängigen, coolen space-artigen Sound, der innen wie auch aussen zu hören ist. Definitiv einer der besten künstlichen Klänge bis jetzt, aber vom emotionalen Mitreissen her nach wie vor kein Vergleich zu einem Verbrenner-Beat.
Mitreissend ist der RS e-tron GT natürlich trotzdem, denn trotz seines GT-Charakters und des sehr hohen Gewichts ist das hier nichts geringeres als ein viertüriger Sportwagen. Die Kraftverteilung ist zwar spürbar heckbetont, dennoch durcheilt der Wagen Kurven selbst bei fast schon gesetzeswidrigem Tempo mit einer Neutralität, die seinesgleichen sucht. Lenkbefehle werden dank der Allradlenkung pfeilschnell und ultra direkt vorgenommen, das Gewicht gerät mehr und mehr in den Hintergrund. Nur bei ganz engen Kehren ist das Gewicht in Form von leichtem Untersteuern gut zu spüren.
Auch die Bremse gibt sich keine Blösse und verzögert brutal und ohne Hitzeprobleme und – wie es sich für einen Elektro-Sportler gehört – ohne spürbare Rekuperation im Pedal. Dieses Auto ist ein echtes Skalpell: Es reagiert messerscharf, ansatzlos und nahezu lautlos und zwar nicht nur längs-, sondern auch querdynamisch. Einziger Wermutstropfen: Entgegen der Handhabung bei anderen Audi Performance-Modellen gibt es hier beim ESP nur on oder off. Glücklicherweise regelt das System sehr feinfühlig und gar nicht störend, doch es wäre durchaus spannend zu erfahren, wie sich diese extreme Kraft vollständig entfesselt anfühlt, ohne gleich auf das komplette Sicherheitsnetz verzichten zu müssen.
Mehr RS als erwartet
Audis RS-Modelle sind ohne jeglichen Zweifel immer schnell, doch sie sind nicht immer hoch emotional und mitreissend. Beim einen oder anderen Modell wird der Charakter zu Gunsten der Performance-Effizienz etwas verwässert. Nicht aber beim RS e-tron GT: Trotz komfortablen Manieren kann dieser Wagen die sprichwörtliche Sau rauslassen und gibt sich auch auf engen, verwinkelten Strecken keine Blösse. Das ist echter Sportwagen-Bau der Zukunft, mit diesem Wagen kann man ziemlich jeden Beifahrer zerstören, wenn man es richtig fliegen lässt.
Bleibt am Ende noch das Thema Geld und auch hier bleibt kein Auge trocken: Für den Testwagen werden happige 195’580 Franken fällig, womit man auf dem Preisniveau eines RS7, aber etwas unter dem Porsche Taycan Turbo liegt. Der Vorteil vom RS e-tron GT ist, dass er zur Zeit noch wenige Konkurrenten hat. Das Tesla Model S Performance beschleunigt zwar noch irrer, hat aber querdynamisch keine Chance gegen den Audi. Bleibt das Plaid-Modell abzuwarten. Aber wenn das die Sportwagen-Zukunft ist, darf sie gerne kommen. Dann muss nur noch das Reichweiten-Problem eliminiert werden. Wird der RS e-tron nämlich so bewegt, wozu er gebaut worden ist, dann bleiben am Ende bei einem Verbrauch von deutlich über 30 kWh/100 km keine 300 Kilometer Reichweite mehr.
Alltag
Das Auto ist zwar gross, doch trotz Elektroplattform ist der Innenraum knapp geschnitten. Da der Akku sich zwischen den Vordersitzen und unter der Rückbank befindet, sitzt man auf allen Plätzen ohne grosse Bewegungsfreiheit. Im Fond wird es ab 1,80 Meter knapp mit der Kopffreiheit und der Kofferraum ist eher Kompaktklasse-Niveau anstatt Oberklasse.
Fahrdynamik
Der RS e-tron GT macht seinen Namen alle Ehre. Er ist trotz der Grösse und des Gewichts ein echter Sportwagen, der nicht nur Power ohne Ende, sondern auch die Agilität und das Feedback bietet, das man sich von einem Fahrspass-Auto wünscht. Nie und nimmer würde man dieses Auto auf 2440 Kilo schätzen, wenn es durch die Kurven flitzt und Geraden zu verkürzen scheint.
Umwelt
Bei so viel Kraft und Gewicht darf man natürlich keinen Wunderverbrauch erwarten. Im Testmittel waren es 28,4 kWh/100 km.
Ausstrahlung
Mit seiner langen Schnauze, dem breiten Heck und der flachen Dachlinie wirkt der RS e-tron GT schnell und schnittig. Wer es nicht weiss, sieht dem Auto seinen Elektroantrieb ausserdem gar nicht an.
Fazit
+ Neuartiges, sportliches und futuristisches Audi-Design
+ Exzellente Verarbeitungsqualität
+ Top Sportsitze mit starkem Seitenhalt und sehr tiefer Sitzposition
+ Online-Infotainmentsystem mit feiner Sprachsteuerung
+ Hoher Fahrkomfort, tiefer Geräuschpegel
+ Fahrmodi mit grosser Spreizung
+ Brachialer und dennoch gut dosierbarer Schub
+ Automatische Rekuperation mittels Radar oder manuell via Paddels
+ Standfeste Bremse
+ Hecklastiger Allradantrieb, extremer Grip
+ Standfeste Bremse
+ Sehr präzise Lenkung mit hohem Feedback
+ State-of-the Art Assistenzsysteme, semi-autonomes Fahren und Parkieren möglich
+ Exzellentes Matrix-Laser-Fernlicht
– Hoher Verbrauch, Langstrecken-Reichweite eher mässig
– Eng geschnitten, wenig Platz fürs Gepäck
– Relativ kleiner Touchscreen, Reaktionszeit des Infotainmentsystems düfte schneller sein
– Kein ESP-Sport-Modus
– Hoher Preis
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Audi RS e-tron GT |
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Preis Basismodell / Testwagen | 149 400 CHF / 195 580 CHF |
Antrieb | Elektrisch, Allradantrieb |
Akkukapazität | 93 kWh (brutto) / 85 kWh (netto) |
Max. Leistung | 440 kW (bei Launch Control: 475 kW) |
Max. Drehmoment | 830 Nm |
Beschleunigung 0–100 km/h | 3,3 s |
Vmax | 250 km/h (elektronisch abgeregelt) |
WLTP-Verbrauch / Energieeffizienz | 24,2 kWh/100 km / A |
Test-Verbrauch / Differenz | 28,4 kWh/100 km / + 17% |
WLTP-Reichweite | 472 km |
Ø Test-Reichweite | 310 km |
Länge / Breite / Höhe | 4,99 m / 1,96 m / 1,41 m |
Leergewicht | 2441 kg |
Kofferraumvolumen | 366 l |
Bilder: Koray Adigüzel
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