Darf man selbstbestimmend sein? Darf man die gesellschaftliche Verantwortung anderen überlassen? Darf man sein persönliches Vergnügen über gängige Konventionen stellen? Wer sämtliche Fragen mit «ja» beantworten kann, ist reif für die Corvette. Dieses Ur-Amerikanische Monstrum führt zu einer tiefen Befriedung seiner selbst, wenn das eigene Ego nur gross genug ist. Die Mittel dazu sind alle in der Corvette vorhanden: Ein Traum von einem Motor, ein eher lockeres Verhältnis zu den jüngsten EU-Normen sowie eine brachiale Optik, die selbst Greta Thunberg Angst und Bange werden lässt. Möge der Spass beginnen.
Die volle Kriegsausrüstung kriegt die Grand Sport gleich ab Werk: Fahrwerk, Chassis und Kühlsystem von der Über-Corvette Z06, dazu Carbon-Keramik-Bremsen von Brembo. Als Final Edition fährt sie ausserdem ein hübsches Aerodynamik-Paket aus echtem Carbon spazieren, das nicht nur scharf aussieht, sondern auch Abtrieb für noch höhere Kurventempi generiert. Wer wirklich nichts anbrennen lassen will, kann sogar noch Semi-Slicks ordern, sollte sich dann aber der Tatsache bewusst sein, dass das Auto bei Regen nur noch mit allergrösster Vorsicht bewegt werden kann.

Tief im Herzen eben doch ein Ami
Jetzt aber schnell in die straffen Schalensitze reinplumpsen und sich starklar machen. Leider ist die Sitzposition zu hoch. Die Intensität der Seitenwangen lässt sich dagegen weit genug justieren und das ist gut so, denn selbst ich als nicht gerade Magersüchtiger verliere mich sonst in den zu weiten Sitzen. Wollen die bei GM tatsächlich, dass ein 150-Kilo-Fass noch Corvette fahren kann? Irgendwo sollte man bei Sportwagen dieser Liga die Grenze ziehen, so diskriminierend das auch sein mag. In anderen Belangen schert sich die Corvette schliesslich auch einen Dreck um die gesellschaftliche Akzeptanz.

Damit ist nicht einmal zwangsläufig der Motorsound gemeint, denn dieser lässt sich über den Touchscreen (hinter dem sich übrigens ein Geheimfach für Kleinkram befindet) präzise einstellen. Entweder der Klang richtet sich am gewählten Fahrmodus oder er kann unabhängig vom Fahrmodus vierstufig festgelegt werden: Leise, Tour, Sport und Track. Die Frage, welche Einstellung ich während meines Tests gewählt habe, ist eigentlich obsolet.

Ein Sound wie nirgendwo sonst
Wer seine Corvette zum Wohle aller mittels der «Leise»-Einstellung kastrieren möchte, bitte. Nicht umsonst habe ich aber in der Einleitung die Frage nach der Selbstbestimmung gestellt und Selbstbestimmung bedeutet für mich Track-Sound, immer und überall. Also Start-Knopf drücken und Lauscher aufstellen. Wenn der Startschuss der Corvette so zornig und voller Inbrunst ist, dass die Nachbarin, die soeben die Tiefgarage betreten hat, ihren Autoschlüssel vor Schreck fallen lässt, dann ist der Soundtest bestanden. Siehe Frage «Persönliches Vergnügen über gesellschaftliche Konventionen stellen».

Ich starte im Tour-Modus, der erstaunliche Cruiser-Qualitäten offenbart. Selbst mit der Auspuffanlage auf Durchzug bleibt der Sound bei gleichmässiger Fahrt zurückhaltend und wer nur moderat beschleunigt, kann auch durch eine Gasse fahren, ohne dass man gleich eine Kriegserklärung an die Umwelt versendet. Man sollte sich allerdings der Tatsache bewusst sein, dass sich das Umfeld an die Begegnung mit der Corvette erinnert. Wer sich also dennoch den voluminösen V8-Klang nicht verkneifen kann, sollte sich so schnell kein zweites Mal am selben Ort blicken lassen…

Obwohl die Corvette weiss Gott kein Allrounder oder Alltagsheld sein will, ist die Federung erstaunlich erträglich. Ausserdem ist die Lenkung so abgestimmt, dass sie um die Mittellage herum ruhig anspricht, sodass das Auto auf der Autobahn präzise, aber nie nervös fährt. Man braucht also keinen Zweitwagen für die längere Tour, sondern kann alles mit der Corvette abspulen. Es wird nicht einmal besonders teuer, denn auf der Autobahn fährt die Corvette dank Zylinderabschaltung (nur im Eco-Modus) mit unter 10 Litern mit Abstand am sparsamsten.

Der Sauger, der alles niederwalzt
Das Tier in der Amerikanerin weckt man spätestens im Sport-Modus. Mehr Widerstand in der Lenkung, aggressive Gasannahme und straffere Dämpfer des Magnetic Ride Fahrwerks sorgen für die perfekte Ausgangslage. Zugegeben, so weich, wie das 8-Gang Automatikgetriebe im Alltag die Gänge sortiert, hatte ich meine Zweifel, ob es auch die harte Gangart verträgt. Doch diese Zweifel wurden schnell begraben.

Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn der Corvette Auslauf gewährt wird und der monströse Sauger seine Muskeln spielen lässt. Bereits bei tiefen Umdrehungen schiebt er ob des gewaltigen Drehmoments massiv voran und spätestens ab 4000 Umdrehungen besteht kein Zweifel, dass nichts und niemand mehr diese Urgewalt an Kraft aufhalten kann.

Partikelungefiltert brüllt der V8 seinen ganze Wut aus den vier beieinander liegenden Endrohren, während der Schub einen beinahe schwindlig werden lässt! Bei 6500 Umdrehungen schmeisst das Getriebe den nächsten Gang rein und begleitet wird dieser Vorgang durch einen peitschenhieb-ähnlichen Knall der Auspuffanlage, der gefühlt gefährlich nahe an der 100-dB-Grenze liegt. Einfach nur wow!

Ein wahres Kurventalent
Es ist wahrlich eine beeindruckende Vorstellung, wie die Corvette sich ihren Weg bahnt und sich die Kraft mit jedem Sekundenbruchteil steigert. Doch die Längsdynamik ist nichts im Vergleich zu dem, was die Vette in Kurven zu leiten vermag. Wie auf Schienen geführt lenkt sie ein und ist absolut immun gegen Untersteuern, selbst bergab bei engen Kurven bleibt sie stoisch in der Spur. Langgezogene Kurven lassen sich meistens mit beinahe Vollgas durchfahren, während das G-Meter im HUD an der Grenze zu 1,2 G kratzt – und das, meine Damen und Herren, bedeutet, dass auf einen 80 Kilo schweren Fahrer 100 Kilo Fliehkräfte wirken. Also verdammt viel!

Sind die Reifen warm genug, ist der Grip so hoch, dass man ab dem Scheitelpunkt der Kurve ohne Probleme mit Vollgas rausbeschleunigen kann. Im Sport-Modus lässt das ESP nicht viel mehr als zarte Heckschwenker zu, sodass die Sicherheit bei eingeschaltetem Menschenverstand stets gewährleistet ist. Apropos Sicherheit: Wenn es hart auf hart kommt, beissen die Karbon-Keramik-Bremsen mit einer derartigen Intensität zu, dass einem beinahe die Augäpfel aus dem Gesicht schiessen! Dass sich die Bremsen nicht kleinkriegen lassen, versteht sich hier von selbst.

Wie ernst es der Corvette um die Track-Tauglichkeit ist, beweist der fünfstufig justierbare Track-Modus, der sich den Gegebenheiten der Strecke sowie dem Können des Fahrers richtet. Da die Zügel des ESP hier locker liegen, ist dieser Modus auf der Strasse mit Vorsicht zu geniessen. Ausserdem wird das Auto in diesem Modus sehr hart, sodass sich der Sport-Modus ohnehin besser eignet.

Eine der letzten ihrer Art
Ich kann nur sagen: Kaufen, solange es die Final Edition noch gibt. Die Vette ist nicht nach Euro-6d-temp zertifiziert (welch Segen), das heisst, dass sie ihren brachialen Sound noch völlig ungefiltert rausschreien darf. Dieses Auto hat nicht nur Charakter und Rückgrat, sondern legt eine Performance an den Tag, die selbst die ganz grossen Namen in der Autobranche vor Furcht erzittern lässt.

Das hier ist ein richtiges Fahrerauto ohne Assistenzsysteme dafür mit allem anderen, was es braucht, um während der Fahrt das Hirn mit Glückshormonen zu fluten. Wer die nötigen 120’900 Franken auszugeben vermag, bekommt ein erstaunlich alltagstaugliches Gefährt, das bei Bedarf alles niederringen kann, was sich ihm in den Weg stellt. Wer will, kann damit bis ans Ende der Welt fahren – schliesslich regiert in der Corvette die Selbstbestimmung. Me, myself and I – der perfekte Soundtrack zu diesem faszinierenden Auto.

Alltag 
Trotz radikaler Sportlichkeit bietet die Corvette Ablagen in den Türen, in der Mittelkonsole sowie Cupholder. Der Kofferraum ist zwar flach, doch wer anstatt auf Hartschalenkoffer auf Sporttaschen setzt, kriegt genug für eine Reise zu zweit hinein. Auch Übersicht sowie Wendekreis stellen einen nicht vor unmögliche Aufgaben und wer bei Temposchwellen und Bahnübergängen die nötige Vorsicht walten lässt, beschädigt den Frontspoiler nicht.
Fahrdynamik 
Ja, Schub und Sound sind grossartig, das Ansprechverhalten bei so eine Mega-Sauger sowieso. Wirklich krass ist aber die querdynamische Leistung der Corvette. Sie hebt das sprichwörtliche Fahren auf Schienen auf ein neues Niveau. Die Lenkung ist messerscharf, der Grip scheinbar unendlich. Untersteuern? Nie, zumindest nicht auf öffentlichen Strassen. Ah ja, da wären noch die Bremsen. Wenn die zubeissen, wird der Anker geworfen, aber so richtig.
Umwelt 
Kaum zu glauben aber ja, die Corvette lässt sich beim gemütlichen Cruisen mit rund 9,5 Litern Verbrauch drei Liter unter dem Normverbrauch fahren, auch dank der Zylinderabschaltung. Wer jedoch auf Attacke aus ist, leer den 70-Liter-Tank beängstigend schnell. Testverbrauch mit mehrheitlich aggressivem Fahrstil: 14,8 l/100 km.
Ausstrahlung 
Die Corvette pfeift mit ihrer kantigen und aggressiven Karosserie darauf, es allen Recht zu machen. Sollen die Neider sie ruhig als Schwanz-Verlängerung oder Zuhälterschlitten betiteln. Wer ganz oben steht, hat ohnehin immer mit Widerstand zu kämpfen.
Fazit 
+ Radikales Design
+ Carbon-Bodykit generiert Abtrieb
+ Bequeme und haltstarke Sitze
+ Ausreichend Ablageflächen und Kofferraum
+ Saubere Verarbeitung und weitgehend hochwertige Materialien
+ Guter Fahrkomfort
+ Fünf Fahrmodi mit deutlicher Spreizung
+ Bäriger Motor mit exzellentem Ansprechverhalten und einem Sound, der einen um den Verstand bringt
+ Extreme Bremsperformance, sehr gute Dosierbarkeit
+ Sehr direkte Lenkung mit top Rückmeldung
+ Grip ohne Ende, sehr hohe Traktion (auf trockener Strasse)
+ Akzeptables Leergewicht
+ Keine piepsenden und reinfunkende Assistenzsysteme
+ Im Vergleich zur Konkurrenz relativ tiefer Preis
– Veraltetes und träges Infotainment-System
– Hoher Verbrauch
– Zu hohe Sitzposition
– Innenraum wird bei aggressiver Fahrweise spürbar aufgeheizt
– Schaltwippen sind an Billigkeit nicht zu überbieten
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Chevrolet Corvette C7 Grand Sport Final Edition |
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Preis Basismodell / Testwagen | 120 900 CHF / 120 900 CHF |
Antrieb | Benzin, Heckantrieb |
Hubraum / Zylinder | 6162 ccm / V8 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Front-Mittelmotor / Saugmotor |
Getriebe | 8-Gang-Automatikgetriebe |
Max. Leistung | 343 kW bei 6000 r/min |
Max. Drehmoment | 630 Nm bei 4600 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 4,1 s |
Vmax | 290 km/h |
NEFZ-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 12,4 l/100 km / 284 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 14,8 l/100 km / 339 g/km / +19% |
Länge / Breite / Höhe | 4,51 m / 1,97 m / 1,24 m |
Leergewicht | 1677 kg |
Kofferraumvolumen | 287 l |
Bilder: Koray Adigüzel
Sehr schickes Gefährt auf jeden Fall. Muss aber dazu sagen, dass mich die fast 15 Liter Verbrauch schon ziemlich abgeschreckt haben.
Kannst du denn vielleicht näher definieren, was du unter einem recht aggressiven Fahrstil verstehst und hast du eine Einschätzung, wie hoch der Verbrauch bei einem schonenden Fahrstil sein könnte?
Im Test bin ich natürlich über mehrere Bergstrassen gefahren und habe manchen Tunnel als Soundverstärker genutzt. 😉 Das ist aber sehr intensives Fahren und nicht sehr repräsentativ. Wenn du das Potenzial der Corvette gar nicht nutzt, dann schaffst du unter 10 Liter, sogar recht easy. Wenn du nur mal gelegentlich aufs Gas drückst, würde ich mit 10 bis 11 Liter rechnen. Um meinen Verbrauch zu erreichen, musst du schon sehr sportlich unterwegs sein. Hoffe, das hilft.