Ich weiss, in der Regel sind Autos männlich, wenn sie nicht gerade Giulietta oder Giulia heissen. Doch für mich ist der Fall klar: Der Infiniti Q60, der Coupé-Ableger des Q50, ist eine Dame. Warum? Weil sein, Pardon, ihr Alter schwer einzuschätzen ist! Da steht der Q60 also vor einem, betört mit seinem schimmernden Rot, dem fesselnden Blick und dem knackigen Hintern. Muss ja richtig jung und frisch sein! Doch wie es so ist, kann das Einschätzen des Alters bei Frauen ganz schön tückisch sein. So auch beim Q60, denn die Technik will nicht so recht mit dem modernen Aussendesign kohärieren. Doch um nicht gleich von Anfang zu beleidigend zu sein, will ich noch anfügen, dass man sich am Steuer des Q60 jederzeit wohlbehütet fühlt.
Es ist wirklich ein Jammer, dass nach wie vor so wenig Leute die Marke Infiniti auf dem Schirm haben. Die Autos sprechen für sich, denn ganz ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand einen Q60 unattraktiv finden soll. Die Linienführung ist so was von gelungen und anscheinend ist es heute wichtiger denn je, sich mit Individualisierung vom Mainstream abzuheben. Aber warum ein teures, deutsches Premium-Produkt aufrüsten, wenn man bei Infiniti was komplett anderes haben kann, das nicht einmal schlechter ist? Berührungsängste braucht niemand zu haben.
Gleich beim Einsteigen fühlt man sich vom Auto in Besitz genommen. Die Sitze schmiegen sich um den Körper, grosszügige Lederverkleidungen ziehen sich durchs Interieur, die Instrumente sind liebevoll gestaltet und zwei übereinander stehende Touchscreens verströmen auf den ersten Blick Coolness und Moderne. Doch auf den zweiten Blick wird klar, dass das Navi sehr angestaubt ist, was Kartendarstellung (holprig) und Verkehrsinfos (nicht vorhanden) betrifft. Smartphone-Konnektivität beherrscht der Q60 ebenfalls nicht. Da nützt es wenig, dass das System eigene, wenig intuitive Apps für Kalender, E-Mails usw. anbietet.
Besser gelöst ist die Bedienung. Der untere Bildschirm ist ausschliesslich ein Touchscreen und kann alles, ausser Navigation. Gut, gibt es Knöpfe für häufig genutzte Funktionen sowie für die Klimatisierung. Das Navi sowie andere Einstellungen wie ALC (dazu komme ich später) können sowohl über den oberen Touchscreen, den Dreh-Drücker in der Mittelkonsole, oder übers Lenkrad aufgerufen werden. Das ist user-freundlich – im Gegensatz zu den beiden Sitzgelegenheiten im Fond. Erstaunlicherweise ist die Beinfreiheit gut, doch wer kein Minion ist, hat null Kopf-Freiheit.
Die sehnige Optik und der neue V6-Biturbo Benziner mit 298 kW versprechen viel Fahrspass und etwas, worauf sich das Ohr freuen kann. Nun ist es aber so, dass der V6 im Standard Modus nicht auf sich aufmerksam machen will. Der Schub ist – nach einer kurzen Gedenksekunde – zwar beträchtlich, doch akustisch ist das Ganze wenig aufregend. Dafür ist die Laufruhe des Motors beeindruckend, bei gemächlicher Fahrweise ist der Q60 kaum lauter als ein Elektroauto, so geschmeidig arbeitet das Aggregat.
Deutlich präsenter wird der Sound in den beiden Modi Sport und Sport Plus. Zwar immer noch weit weg von spektakulär, aber dafür wird nirgends gekünstelt oder elektronisch gesteuert. Stattdessen hört man reinsten Motorsound: Nicht besonders laut, aber dafür schön. Mit seinen 475 Nm macht das potente Triebwerk mit den fetten 1900 Kilo des Coupés kurzen Prozess, da der Motor durch seine Drehfreude besticht. Dank Allradantrieb ist die Traktion nie ein Problem und am Kurvenausgang kann man das Gaspedal wie ein Irrer traktieren, das Heck wahrt stets die Contenance, notfalls mit einem schnellen ESP-Eingriff.
Allerdings animiert der Q60 trotz hoher Leistung nicht zum Rasen. Dafür ist einerseits, das Gewicht zu hoch, andererseits verfolgt die elektronische Lenkung einen anderen Ansatz. Ja, richtig gelesen: Den Q60 zu steuern ist dasselbe, als ob man ein Lenkrad an die PlayStation anschliesst. Steer by Wire nennt sich die Technologie, bei der (im normalen Betrieb) keine mechanische Verbindung mehr zwischen Lenkrad und Achse besteht. Im Notfall kann eine Kupplung die mechanische Verbindung herstellen.
Das hat sowohl Vorteile, als auch Nachteile. Beim sportlichen Fahren fehlt einem schlicht das Feedback, man spürt nicht, was die Vorderachse tut und folglich auch nicht so gut, wie nah man nun am Grenzbereich ist. Bei gemütlicherer Gangart überwiegen dafür die Vorteile. Unebenheiten werden nicht mehr durchgegeben, das Lenkrad bleibt stets völlig ruhig und da sich sowohl “Servounterstützung”, als auch Übersetzung frei anpassen lassen, kann man sich eine Lenkung nach seinem Geschmack konfigurieren.
Besonders gut harmoniert die elektronische Lenkung mit der Active Lance Control, kurz ALC, die ich oben kurz erwähnte. Dieses System hält den Q60 auf der Autobahn konstant in der Spur und der Clou an der Sache ist: Die ganz feinen Lenkbewegungen, die andere Spurassistenten stets machen, führt der Q60 mit seiner elektronischen Lenkung nahezu unmerklich aus. Auch speziell: im Gegensatz zu allen anderen Herstellern verzichtet Infiniti auf eine Warnung, wenn man die Hände vom Lenkrad nimmt, obwohl es gesetzlich verboten ist. Das Auto fährt solange alleine, bis ein Kurvenradius zu gross wird.
Ganz so fortschrittlich sind die übrigen Assistenzsysteme leider nicht. Der Abstandstempomat reagiert träge und bremst viel zu früh, der Notbremsassistent ist fast schon paranoid und piepst einen ständig an. Die Fernlichtautomatik blendet andere Verkehrsteilnehmer, da sie zu spät reagiert. Eigentlich innovativ ist der sogenannte Front Assist, der auch bei ausgeschaltetem Abstandstempomat selbstständig bremst und den Abstand zum Vordermann einhaltet. So ist es theoretisch möglich, nur mit dem Gaspedal zu fahren, da das System mittels Gegendruck beim Gaspedal dafür sorgt, dass man nicht zu nah auffährt. Das Ganze wäre komfortabel, würde das System nicht manchmal auf am Strassenrand parkierte Autos reagieren und einen so unnötig ausbremsen.
Warum diese Schwächen? Ganz einfach: Obwohl der Q60 neu ist, ist er es technisch gesehen eben nicht. Der Q50, der die Basis für den Q60 bildet, ist bereits seit rund drei Jahren auf dem Markt und gerade bei den Punkten Infotainment und Assistenzsysteme, wo der Fortschritt am schnellsten ist, ist der Q60 von Beginn an im Rückstand.
Das tut am Fahrverhalten aber nichts zur Sache. Der Q60 bietet Komfort, Laufruhe und bei Bedarf immensen Schub zu einem äusserst fairen Preis. Für 82’200 Franken gibt es zwar keine Individualisierungsoptionen, aber dafür ist das ganze Auto schon individuell genug. Handkehrum bekommt man einen schicken und feinen Gleiter mit Vollausstattung, der zwar innovative Technik mit sich trägt, die aber langsam dem Zahn der Zeit zum Opfer fällt. Zeitlos schön sind dafür sein gelungenes Design sowie der geschmeidige V6, der ohne Start-Stopp-System auskommen muss. Nicht mehr zeitgemäss? Ich finde es in der heutigen Zeit, in der diese Systeme den Motor immer früher abwürgen, eine willkommene Befreiung.
Alltag
Für zwei Personen ist der Q60 wie geschaffen. Er ist ausserdem übersichtlich und nicht so gross. Die Rückbank ist nur für Kinder zumutbar.
Fahrdynamik
Zügig unterwegs sein ist absolut kein Problem, aber wer richtig sportlich unterwegs sein will, stösst mit dem 1900 Kilo schweren Coupé an die Grenzen. Die elektronische Lenkung vermittelt ausserdem kein authentisches Feedback, was fürs sportliche Fahren unerlässlich ist.
Umwelt
Im Test wurde das Auto hin und wieder gefordert, sodass die 9,9 Liter Verbrauch in Ordnung gehen. Wer einfach nur dahingleitet, wird den Normverbrauch von 9,4 l/100 km unterbieten.
Ausstrahlung
Das Auto ist eine Augenweide und dass viele Leute neugierig schauen, zeigt zweierlei: Erstens ist der Q60 ein Eyecatcher, zweitens ist es für viele das erste Mal überhaupt, dass sie den Q60 in freier Wildbahn sehen. Infiniti sind in der Schweiz eben nach wie vor sehr rar.
Fazit
+ Sehr schönes Design
+ Gute Übersicht
+ Hochwertige Materialen, gute Verarbeitung
+ Sehr bequeme Sportsitze
+ Laufruhiger Motor mit authentischem Klang
+ Toller Fahrkomfort, sehr leises Fahrverhalten
+ Unauffälliges Automatikgetriebe, sanfte Schaltvorgänge
+ Frei konfigurierbare Lenkung, keine Lenkeinflüsse
+ Viele Assistenzsysteme verfügbar
+ Fairer Preis
– Hohes Gewicht
– Teils träge Assistenzsysteme mit Fehlalarmen
– Veraltetes Infotainmentsystem
– Mangelndes Lenk-Feedback bei sportlichem Fahren
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Infiniti Q60 |
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Preis Basismodell / Testwagen | 55 900 CHF / 82 400 CHF |
Antrieb | Benzin, Allradantrieb |
Hubraum / Zylinder | 2997 ccm / V6 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Frontmotor / Biturbomotor |
Getriebe | 7-Gang Automatikgetriebe |
Max. Leistung | 298 kW bei 6400 r/min |
Max. Drehmoment | 475 Nm bei 1600 - 5200 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 5,0 s |
Vmax | 250 km/h (elektronisch abgeregelt) |
NEFZ-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 9,4 l/100 km / 210 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 9,9 l/100 km / 221 g/km / +5% |
Länge / Breite / Höhe | 4,69 m / 1,85 m / 1,39 m |
Leergewicht | 1900 kg |
Kofferraumvolumen | 342 l |
Bilder: Koray Adigüzel