Kia kann bereits auf einige Jahre Erfahrung im Bau von Elektrofahrzeugen zurückgreifen. Der erste E-Soul beispielsweise kam bereits 2014 auf den Markt. Mit den Modellen Soul und Niro bediente Kia eher die preissensiblere Kundschaft, doch mit dem EV6 ändern sich die Ansprüche und das Preisschild. Das Design bricht mit sämtlichen Konventionen und auch leistungsstechnisch geht Kia neue Wege. Unter dem Strich bleibt viel Begeisterung und wenig Kritik!
Ähnlich wie Hyundai beim Ioniq 5 geht Kia beim EV6 gänzlich neue Design-Wege. Ohne Logos wäre das Auto niemals als Kia zu identifizieren. Während der Ioniq auf Ecken und Kanten sowie einen Mix aus Retro und Moderne setzt, definiert der EV6 den Begriff Crossover neu. Die flache und kurze Schnauze könnte glatt einem Mittelmotor-Sportwagen entliehen sein, während das wuchtige und runde Heck irgendwie an den Aston Martin DBX erinnert.
Die Dachlinie ist abfallend und die Fenster klein, einerseits wirkt der EV6 gedrungen, andererseits ist er etwas höher gelegt und betont das auch noch mit markanten Kotflügeln. Im Gegensatz zum schnörkellosen Stinger ist der EV6 viel überzeichneter, wobei sein Design viele schöne Details birgt.
Hochwertiges Cockpit, Ergonomie nicht perfekt
Etwas weniger extravagant ist es im Innenraum, wenngleich auch hier bis auf die typische Schrift kaum etwas auf Kia verweist. Eine grosse Mittelkonsole verhindert zwar ein besonders luftiges Raumgefühl, dafür bietet sie immensen Stau- und Ablageraum. Besonders edle Materialien finden sich im EV6 zwar nicht, dennoch ist die Haptik deutlich besser als bei manchem deutschen Auto mit ähnlichem oder gar höherem Preisniveau. Ein nettes Gimmick ist der Curved-Bildschirm vor dem Fahrer, welcher die Ablesbarkeit etwas verbessert.
Leider sind ausgerechnet die wichtigsten Angaben – nämlich Tempo und Reichweite – je nach Sitzposition mehr oder weniger vom Lenkrad verdeckt. Zwar wird die Reichweite auch auf dem zweiten Screen angezeigt und das Tempo auf dem optionalen HUD, dennoch ist das in meinen Augen ein klarer Darstellungsfehler. Sehr cool ist dafür die bequeme Liegeposition inklusive Fussstütze für die Vordersitze bei einem Ladestopp. Jedoch wird öfters gefahren als genappt und da hapert es etwas. Die Sitzposition ist generell zu hoch und da der Boden aufgrund des daruterliegenden Akkus erhöht ist, ist die Sitzposition noch befremdlicher.
Extreme Bandbreite
Der EV6 ist nicht mit adaptivem Fahrwerk erhältlich, dennoch ist die Spreizung zwischen den Fahrmodi enorm. Gestartet wird im Normal-Modus, der wie üblich ein ausgewogenes Feeling zwischen Abrufen der Leistung und Effizienz bietet. Der EV6 federt satt, verfügt über eine gute Geräuschdämmung und ist bereits im Normal-Modus das fahraktivere Auto als der Technik-Bruder Ioniq 5. Die Mensch-Maschine-Verbindung ist in diesem Auto einfach intensiver, man spürt mehr vom Fahren, es ist weniger “fluffig” als im sehr komfortablen Ioniq 5.
Nichtsdestotrotz bietet auch der Kia insbesondere im Eco-Modus die Fähigkeit, ultra geschmeidig zu fahren. Da das Gaspedal nun sehr indirekt anspricht, erhöht sich durch das butterweiche Anfahren der Komfort aller Fahrgäste. Mit den Schaltpaddels kann man zudem unabhängig vom Fahrmodus die Rekuperation in verschiedenen Stufen oder automatisch anhand des Frontradars einstellen. In der maximalen Rekuperationsstufe bremst das Auto beim loslassen des Gaspedals bis zum Stillstand und bleibt auch stehen, ohne dass ein Pedal betätigt werden muss.
Dass der EV6 auch ordentlich Fahrspass bieten kann, beweist er im Sport-Modus. Das Ansprechverhalten wird dann geradezu aggressiv direkt und die 605 Nm sorgen für einen massiven Tritt in den Hintern! Durch die generell eher straffe Abstimmung und dem Einsatz von Performance-Reifen macht der EV6 auch in Kurven eine sehr gute Figur. Das Einlenkverhalten ist überraschend agil und die Lenkung reagiert im Sport-Modus sehr direkt, ist gleichzeitig aber zu künstlich hart geraten, worunter das Feedback leidet. Für einen langstrecken-tauglichen Gran Turismo, der hier notabene nicht in der noch kommenden Performance-Variante GT antritt, ist das Handling aber aller Ehren wert.
Hightech zum Low-Preis
Nicht nur leistungsmässig, auch technisch bietet der EV6 einige Trümpfe: Semi-autonomes Fahren auf der Autobahn, autonomes Parkieren, Augmented-Reality-HUD, Matrix-Licht und eine Tot-Winkel-Kamera beim blinken, um nur die Highlights zu nennen. Erwähnenswert auch, dass die Assistenztechnik feinfühlig agiert und im Test kein Fehlalarm oder ähnliches zu beklagen war.
Mit seinem rund 77 kWh netto nutzbarem Akku erreicht der Wagen eine WLTP-Reichweite von 506 Kilometern, im Test mit relativ hohem Autobahn-Anteil und sportlichen Passagen waren es rund 370 Kilometer. Wer es also etwas ruhiger angeht, kann mit garantierten 400 Kilometer Reichweite rechnen. Dank der 800V-Bordspannung sind Ladeleistungen von bis zu 240 kW möglich, da kann praktisch keine Konkurrenz mithalten. Wie der Ioniq 5 ist auch der EV6 in der Lage, mittels V2l-Technologie und mitgeliefertem Adapter elektrische Geräte wie Elektro-Grill oder E-Bike-Akku zu betreiben respektive zu laden.
Mit dem EV6 hat Kia ein auf ganzer Linie beeindruckendes Auto auf die Räder gestellt. Abstriche gibt es meiner Ansicht nach nur für die Ergonomie, aber das ist abhängig vom Körperbau auch immer eine etwas subjektive Angelegenheit. Ansonsten gibt es hier und da ein Detail, das verbesserungswürdig ist, doch das ändert alles nichts am Schlussprädikat, dass der EV6 in seiner Klasse definitiv etwas vom Besten ist, das man derzeit kaufen kann. Und als wäre das alles noch nicht gut genug, bleibt Kia im Gegensatz zu manch anderem Hersteller bodenständig. In Zahlen ausgedrückt heisst das: Gewohnte sieben Jahre Garantie (auch auf den Akku) und ein Testwagenpreis von rund 66’000 Franken mit nahezu kompletter Ausstattung.
Alltag
Für Fahrer und Mitreisende bietet der EV6 grosszügige Platzverhältnisse, obwohl der hohe Fahrzeugboden eine perfekte Sitzposition verhindert. Aufgrund des flachen Hecks ist der Kofferraum zwar lang, für sperrige Gegenstände jedoch nur bedingt geeignet. Überraschend ist der grosse Wendekreis, der unter Umständen das rangieren und parkieren erschwert. Die sehr hohe Ladeleistung ist super und bislang beinahe einzigartig.
Fahrdynamik
Im Sport-Modus lassen Antritt und Ansprechverhalten keine Wünsche mehr offen. Am Tempo 100 wirkt der EV6 aber nicht mehr so stark. Die Lenkung gefällt mit sehr direkter Übersetzung und agilem Einlenkverhalten, es fehlt jedoch an Feedback und Gefühl für die Vorderachse.
Umwelt
Der Testverbrauch von 20,2 kWh/100 km kann sich für ein Auto seiner Grösse und Leistungsklasse sehen lassen.
Ausstrahlung
Der neue Kia EV6 bricht mit Design-Konventionen und sieht aus, wie man es von einem Kia vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Der EV6 ist eine gelungene Mischung aus SUV und Gran Turismo.
Fazit
+ Spannender und auffälliger Designmix
+ Sehr gutes Raumangebot für die Passagiere
+ Bequeme Sitze mit Liegefunktion für einen Powernap
+ Sehr hohe Verarbeitungsqualität
+ Deutlich unterschiedlich abgestimmte Fahrmodi
+ Blitzartiges Ansprechverhalten mit kräftigem Antritt im Sport-Modus
+ Trotz eher straffem Fahrwerk sattes und ausgewogenes federn
+ Hecklastiger Allradantrieb
+ AR-HUD
+ V2l-Technologie
+ Sehr hohe Ladeleistung
+ Gute Verbrauchswerte
+ Gute Geräuschdämmung
+ Üppige Ausstattung
+ Fairer Preis
– Zu hohe und nicht ganz optimale Sitzposition
– Grosser Wendekreis
– Wichtige Cockpit-Informationen werden vom Lenkrad verdeckt
– Keine intelligente Ladeplanung des Navis
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Kia EV6 AWD |
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Preis Basismodell / Motorisierung / Testwagen | 56 650 CHF / 61 650 CHF / 66 180 CHF |
Antrieb | Elektrisch, Allradantrieb |
Akkukapazität | k.A. (brutto) / 77,4 kWh (netto) |
Max. Leistung | 239 kW |
Max. Drehmoment | 605 Nm |
Beschleunigung 0–100 km/h | 5,2 s |
Vmax | 185 km/h (elektronisch abgeregelt) |
WLTP-Verbrauch / Energieeffizienz | 17,2 kWh/100 km / A |
Test-Verbrauch / Differenz | 20,2 kWh/100 km / +14% |
WLTP-Reichweite | 506 km |
Ø Test-Reichweite | 370 km |
Max. Ladeleistung (DC) | 240 kW |
Länge / Breite / Höhe | 4,68 m / 1,88 m / 1,59 m |
Leergewicht | 2180 kg |
Kofferraumvolumen | 490 - 1300 l + 20 l Frunk |
Bilder: Koray Adigüzel
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