Unzählige Male haben die Römer versucht, Gallien einzunehmen – scheiterten aber am enormen Widerstand von Asterix & Obelix und Co. Kein Wunder also, zeigt Obelix mit dem Zitat «die spinnen, die Römer», dass er nicht viel für sie übrig hat! In der echten Welt versuchen sich nun die Koreaner an einer Herkulesaufgabe. Quasi aus dem Nichts stellen sie einen potenten Gran Turismo auf die Räder, der geradezu skrupellos im Revier der etablierten Premium-Brands wildert. Das kann eigentlich gar nicht gutgehen… oder etwa doch? Jedenfalls schreit diese Kampfansage von Kia geradezu danach, ihren ganzen Stolz nach einem extra harten Massstab zu testen. Soviel vorneweg: Der Stinger-Test hat bewiesen, dass die Koreaner eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Aber nicht aufgrund ihres Strebens nach mehr. Ganz und gar nicht.
Das fängt schon damit an, dass der Stinger optisch irgendwie so gar nicht mit dem kohäriert, was man sich gemeinhin unter einem Kia vorstellt. Da ist zwar die obligate Tigernase an der Schnauze, aber sonst könnte das, was die Koreaner da gezeichnet haben, auch als Maserati durchgehen. Ein viel grösseres Kompliment kann ich gar nicht aussprechen. Harter Massstab hin oder her, aber dieses Design ist atemberaubend und obwohl Geschmäcker verschieden sind, bin ich mir ziemlich sicher, dass man den Stinger einfach als gelungen bezeichnen muss.
Die Vorfreude beim Einsteigen ist grenzenlos, denn auch das Interieur ist mit viel Leder, Velours-Dachhimmel, Lüftungsdüsen im Turbinen-Design sowie grossflächigen Aluminium-Applikationen nicht nur sportlich designt, sondern ebenfalls eine ganz andere Welt als ein «normales» Kia Cockpit. Die Verarbeitungsqualität ist bestechend und reicht bis auf Haaresbreite an deutsche Premium-Marken heran. Was sich Kia leider geschenkt hat, ist eine Ambientebeleuchtung, um das Interieur im Dunkeln ins richtige Licht zu rücken. Allerdings bekomme ich angesichts des hohen Niveaus, auf welchem ich jammere, fast schon Höhenangst…
Der erste Dämpfer folgt ausgerechnet beim Motorstart. Der erste Kia mit einem richtig sportlichen Motor wird auf die Strasse geschickt und dann muss man sich im Leerlauf fragen, ob das Ding überhaupt läuft, so leise ist das V6-Triebwerk. Da verspricht die vierflutige Abgasanlage definitiv mehr, als sie hergibt. Es gibt auf gewissen Märkten eine Sportabgasanlage ab Werk, die für die Schweiz aber leider nicht vorgesehen ist.
Aber was soll’s, Automatik auf D gestellt und los geht’s. Standardmässig beginnt der Gran Turismo stets im Comfort-Modus, in welchem das Auto sehr ausgeglichen und souverän fährt. Mein Lieblingsmodus ist der Smart-Modus, in welchem das Auto je nach Fahrstil selbstständig zwischen den Modi Comfort, Eco und Sport wechselt.
So tuckert man also spritschonend durch die Ortschaft, geniesst den hohen Federungskomfort und die leichtgängige, aber präzise Lenkung. Gibt man ausserorts Gas und fährt sportlich um eine Kurve, versteifen sich Lenkung und Fahrwerk spürbar und der Stinger gibt das erste Mal preis, über welches Potenzial er verfügt.
Besonders positiv aufgefallen ist mir das Getriebe, welches sehr geschmeidig die Gänge wechselt und auch bei plötzlich sportlicher Gangart schön die Ruhe bewahrt. Es verkneift sich hektische Gangsprünge, sondern arbeitet mit dem üppigen Drehmoment. Ausserdem nervt es nicht mit unnötigen tiefen Gängen, sondern wählt auch im Sport-Modus lieber höhere Gänge, ohne dass das Auto zugeschnürt wirkt. Dafür, dass das Getriebe eine Eigenentwicklung der Koreaner ist, haben sie das echt hervorragend gelöst. Leider haben sie im Eifer des Gefechts vergessen, für die Sport-Fraktion einen manuellen Modus zu implementieren. Man kann zwar über die Schaltwippen jederzeit eingreifen, aber nach wenigen Sekunden übernimmt die Automatik wieder das Sagen. Auch hier: Jammern auf überirdischem Niveau, aber hey, irgendetwas muss ich ja kritisieren…
Wäre nicht das Kia-Logo auf dem sportlich geformten Lenkrad, ich hätte mittlerweile vergessen, dass ich in einem Koreaner sitze. Die exzellenten Sportsitze, die druckvolle Soundanlage, der tiefe Geräuschpegel im Innenraum sowie das willige Handling, sobald man es etwas sportlicher angehen lässt – das ist alles so gar nicht Kia – bis jetzt. Doch nun ist der Stinger da und er ist der fahrende Beweis, dass man keine jahrzehntelange «Premium-Erfahrung» benötigt, um ein Auto auf diesem Niveau zu fahren. Mich stört darum das Kia-Logo auch überhaupt nicht, denn mancher BMW ist spiessiger als der Stinger.
Wer die Nase mit dem Gedanken «aber das ist doch nur ein Kia» rümpft, soll das Auto einfach mal fahren und zwar am besten auch mal im Sport+ Modus. Dann wird der Stinger nämlich ziemlich böse und lechzt nur nach dem nächsten Gasbefehl. Wird ihm dieser Wunsch erfüllt, prescht der V6-Biturbo durch das Drehzahlband und glänzt mit starkem, gleichmässigem Schub durchs ganze Drehzahlband. Zudem wird das Ansauggeräusch in den Innenraum übertragen, was zwar sehr gut und voluminös klingt, aber leider nichts daran ändert, das aussen nicht viel mehr als ein Fauchen zu hören ist. Angst vor dem eigenen Mut scheint Kia bei der Launch Control zu haben. So zaghaft, wie der Stinger loszieht, verdient sie diesen Namen nicht. Da könnte definitiv mehr gehen, aber das könnte etwas mit den sieben Jahren Garantie zu tun haben. Wirklich gesund ist so ein Gewaltakt in der Regel ja nicht.
Abermals positiv überrascht werde ich dafür angesichts des sensationellen Handlings. Im Sport+ Modus ist das ESP zurückhaltender, aber man muss dennoch beinahe Gewalt anwenden, damit sich das Heck zu einem Powerslide überreden lässt. Zwar fliesst erst mal alle Kraft nach hinten, aber sobald dies nicht mehr ausreicht, verteilt der Stinger seine Kraft blitzschnell auf alle Räder. Ehe man also realisiert, dass das Heck gerade quer ist, hat sich das Auto schon wieder selbst gerade gezogen. Eine Drift-Maschine kriegen bloss andere Märkte wie USA oder Australien, wo der Stinger mit Heckantrieb samt Sperrdifferential erhältlich ist.
Wir kriegen dafür einen GT mit unerschütterlicher Stabilität, denn selbst auf Winterreifen bin ich mit dem Stinger um Kurven gefahren, wie ich es ihm angesichts des hohen Gewichts von knapp zwei Tonnen nie zugetraut hätte. Das Quäntchen Agilität, das ihm fehlt, gleicht er durch Stabilität und Grip wieder aus. Obwohl der Stinger als Gran Turismo kein Hardcore-Sportler ist, fährt er sich genau so toll, wie er aussieht. Er erfüllt meine Erwartungen somit nur, er übertrifft sie sogar – mit Ausnahme des Motorsounds.
Zum Schluss muss ich noch übers Geld reden – und dabei Klartext sprechen. Den Stinger gibt es bei uns nur in der Variante «einmal alles, bitte», einzig Metallic-Lack kostet extra. Damit kostet der Fünfplätzer mit sensationeller Ausstattung und tollen Fahrleistungen 60’000 Franken. Ein vergleichbar ausgestatteter Audi S5 Sportback schlägt mit rund 102’000 Franken zu Buche. Ja, das man erst mal sitzen lassen… Damit stellt sich mir zum Schluss die Frage, wer jetzt eigentlich einen an der Waffel hat: Die Koreaner, die ein exzellentes Auto unter Wert verkaufen oder alle Armleuchter, die dennoch lieber zu den Premium-Marken marschieren und sich weiterhin über den Tisch ziehen lassen.
Alltag
Obwohl der Stinger ein grosses Auto ist, sind die Platzverhältnisse nicht so überragend. Im Fond wird für grosse Mitreisende der Kopfraum knapp und der Kofferraum ist zu flach – ein klarer Tribut an das Design. Zudem ist der Wendekreis sehr gross und die Übersicht nach hinten sowie schräg hinten praktisch nicht vorhanden. Zum Glück ist die 360-Grad-Kamera Serie.
Fahrdynamik
Der Biturbo-Motor tritt ohne Anfahrschwäche oder grosse Verzögerung an und dreht munter durchs Drehzahlband. Noch nie ist ein Kia so dermassen abgegangen und noch nie hat sich ein Kia so sehr in den Asphalt verbissen wie der Stinger. Sein präzises Handling und die enorme Stabilität trotz fast zwei Tonnen Leergewicht sind erstaunlich. Fahrspass garantiert, obwohl der Motorsound auf der Strecke bleibt.
Umwelt
Dass ich mit meinen 11,0 l/100 km im Schnitt den schon hohen Normverbrauch von 10,6 l/100 km übertreffe, liegt nur am harten Einsatz im Test. Bei gemütlicher Fahrweise begnügt sich der Stinger mit weniger als 9 Litern, was für seine Leistung akzeptabel ist.
Ausstrahlung
Noch nie hat ein Kia so viele Blicke auf sich gezogen, wie der Stinger. Und kein einziger hat das Design nicht für gut befunden. Dies ist der erste richtig geile Kia – aber vielleicht nicht der Letzte?!
Fazit
+ Sehr sportliches, schickes Design
+ Erstklassige Ergonomie, sehr bequeme Sportsitze
+ Tadellose Verarbeitung, top Qualität, edle Materialien
+ Intuitives Mediasystem mit Smartphone-Integration, druckvolles Sound-System
+ Sehr umfassendes Arsenal an Assistenzsystemen
+ Drehfreudiger V6-Biturbo
+ Perfekt schaltendes Getriebe
+ Bissige Bremsen
+ Direkte Lenkung mit sensationeller Rückmeldung
+ Unerschütterliche Stabilität, baut sehr viel Grip auf
+ Üppige Ausstattung
+ Bombastischer Preis
– Hohes Gewicht
– Zu dezenter Motorsound (Sportabgasanlage ab Werk wäre in anderen Märkten erhältlich)
– Kein manueller Modus fürs Getriebe
– Zögerliche Launch Control
– Kofferraum und Kopffreiheit im Fond etwas knapp bemessen
– Miserable Rundumsicht
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Kia Stinger GT |
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Preis Basismodell / Testwagen | 59 200 CHF / 60 150 CHF |
Antrieb | Benzin, Allradantrieb |
Motoranordnung / Motorkonzept | Frontmotor / Biturbomotor |
Hubraum / Zylinder | 3342 ccm / V6 |
Getriebe | 8-Gang Automatikgetriebe |
Max. Leistung | 272 kW bei 6000 r/min |
Max. Drehmoment | 510 Nm bei 4500 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 4,9 s |
Vmax | 270 km/h |
NEFZ-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 10,6 l/100 km / 244 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 11,0 l/100 km / 253 g/km / +4% |
Länge / Breite / Höhe | 4,83 m / 1,87 m / 1,40 m |
Leergewicht | 1971 kg |
Kofferraumvolumen | 406 - 1114 l |
Bilder: Koray Adigüzel
Guter Bericht und tolles Auto. Macht wirklich Eindruck was sie da auf die Beine gestellt haben. Aber den Vergleich mit Audi S5 ist jetzt wirklich Äpfel mit Birnen vergleichen. Nur schon beim Innenraum sieht man den Unterschied von Premium oder Koreaner. Und wenn man die ganzen Assistenzsysteme beim Koreaner sucht, welche auch Sicherheit beiten, schaut man ins Leere. Übrigens der Audi S5 kostet mit vielen, vielen Extras 102’000. Viele Grüsse
ok das mit den Assistenssysteme nehme ich zurück. Das Auto bietet auch ziemlich viel, kommt zwar nicht an einem S5 heran, aber Hut ab. Das Cockpit sieht jetzt aber auch nicht wirklich sportlich und chic aus. Das Virtual Cockpit von Audi ist schon einzigartig. Trotzdem tolles Auto der Koreaner.
Hi! Ja, der S5 kostet mit vielen, vielen Extras 102’000 CHF – aber diese vielen, vielen Extras sind beim Stinger eben serienmässig. Insofern passt der Vergleich schon, auch von Grösse und Motorleistung. Tatsache ich, dass ein S5 ein Tick besser ist. Er ist noch etwas besser verarbeitet, die Assistenzsysteme reagieren feinfühliger, Virtual Cockpit ist top. Aber: Niemals rechtfertigt das diesen extremen Preisunterschied. Der Stinger ist zu günstig und der S5 zu teuer.
P.S. In diesen 102’000 Franken, die ich konfiguriert habe, ist das Virtual Cockpit nicht mit einberechnet. 😉 In diesem Sinne: Schönes Weekend! Lg Koray
Toller Bericht hab schon länger den Gedanken einen zu kaufen. Das traurige an der Ambientebeleuchtung ist ja das in Amerika eine eingebaut ist und das finde ich scheiße weil ich bei mir eine drinnen habe.