Es gibt kein perfektes Auto. Diesen Standpunkt vertrete ich seit Anbeginn dieses Blogs, doch der Lamborghini Huracán Evo kommt dieser Perfektion unfassbare nahe, als aktueller Spyder Testwagen sogar näher als je zuvor! Bereits das Vergnügen hatte ich mit dem Allrad-Coupé und dem RWD-Spyder. Jetzt also Allrad-Spyder und der Test zeigt, dass dies für den alltäglichen Wahnsinn auf der Strasse die perfekte Kombination für maximalen Genuss ist. Einmal mehr beweist der Huracán, dass er ein wahrer Pulsbeschleuniger ist – für die Insassen, aber auch für alle, die seinen Auftritt hautnah miterleben dürfen.
Jenseits von Leasingverträgen, Dienstwagen und Alltagswagen mit Wiederverkaufs-Sorgen beginnt die Welt von Lamborghini. Und die ist nicht weiss, schwarz oder grau, sondern auffällig, schrill, extravagant und dennoch bis auf den Punkt perfekt gestylt. Gestatten, Huracán Spyder Evo in Blu Uranus Matt. Perfektioniert wird das Design durch Akzente in Hochglanzschwarz, schwarze Bremssättel sowie Felgen mit Zentralverschluss in Roségold. Nach wie vor einzigartig ist die extreme Dachlinie bei Lamborghini, eine flachere Frontscheibe und extremere Proportionen findet man nirgendwo sonst.
Ein Traum in Weiss
Das Interieur ist als auffälliger Kontrast mit weissen Schalensitzen ausgestattet. Wie es der Stil gebietet, nehmen das Muster der Sitze sowie die Nähte das Roségold der Felgen wieder auf. Ein schwarz beledertes Armaturenbrett sowie Zierelemente aus dem sogenannten «Forged Composites» Material machen aus diesem Interieur ein kleines Kunstwerk. Klein? Ja, denn beim Spyder entfällt die zusätzliche Gepäckablage hinter den Sitzen. Mit den Schalensitzen sitzt man noch etwas tiefer und besser ins Auto integriert als mit den elektrisch verstellbaren Sitzen, dennoch ist eine Körpergrösse von ca. 1,85 Meter das Maximum, damit man nicht mit den Haaren den Dachhimmel streift.
Auf sie, mit Gebrüll!
Lamborghini fahren bedeutet Drama und das beginnt beim Motorstart. Rote Klappe anheben, Startknopf drücken. Es klickt, der Anlasser sirrt und die zehn Zylinder im Heck brüllen auf. Ein Fest für die Sinne, vor allem mit offenem Verdeck beim Kaltstart. Garniert wird das Ganze von frischem Geruch nach Benzin. So muss das sein! Fahrstufe D wird über den Zug am rechten Paddel eingelegt und los geht der wilde Ritt.
Wobei, im Strada-Modus ist der Ritt gar nicht so wild. Sobald sich der Zehnzylinder etwas aufgewärmt hat, beruhigt sich der Klang auf ein sozialverträgliches Niveau. Das Getriebe schaltet möglichst fix in hohe Gänge, sodass bereits innerorts der siebte und höchste Gang eingeworfen wird. Das Fahrwerk lässt in diesem Modus erstaunlich viel Dämpfung zu und etwas Provokation in Form von höherem Tempo im Kreisverkehr beseitigt sämtliche Zweifel über das Wesen des Huracán im Strada-Modus: Er untersteuert einfach wie ein Fronttriebler!
Eigentlich ganz alltagstauglich
Es ist schon fast wieder ein Kunstgriff von Lamborghini, einen aggressiven Mittelmotor-Sportwagen so zu zähmen, dass er sich völlig unkompliziert fährt und die Sicherheit an oberster Stelle setzt. Der – etwas gedämpfte – Klang, die unglaublich tiefe Sitzposition, die Blicke der anderen Verkehrsteilnehmer und der stürmische Fahrtwind vermitteln zwar vollkommenes Supersportwagen-Feeling, doch der Antrieb macht erstmal Pause.
Man kann schliesslich nicht immer auf 180 sein und obwohl Lamborghini gerne die Extreme ausreizt, ist der Huracán Spyder auch im Alltag ganz gut brauchbar. Die Übersicht nach vorne ist prächtig, gegen hinten hilft eine Kamera. Bodenschwellen meistert der Italiener mittels Lift-System und dank der Allradlenkung ist er so wendig wie ein Kompaktwagen. Nur der Platz, der ist wirklick knapp, der kümmerliche 110 Liter«Frunk» wird aufgrund von Abwärme sogar selber warm, weshalb Einkaufen mit dem Huracán suboptimal ist.
Teufel, komm raus!
«Don’t be evil», das war bis vor wenigen Jahren noch das Motto von Google. Nicht böse, das ist der Huracán auch, aber nur, solange er sich im Strada-Modus befindet. Im Sport-Modus mutiert er zum wahren Kampfstier! Auspuffklappe permanent offen, aggressive Gasannahme, spontanes Getriebe und vor allem: Fertig untersteuern. Jetzt geht’s erst richtig los, dafür wurde er gebaut, nicht zum Einkaufen fahren.
Bereits aus tiefen Drehzahlen schiebt der V10 unerbittlich an, steigert Kraft und Tonlage mehrmals um ab 6500 Umdrehungen zum grossen Crescendo auszuholen. Unter hysterischem Gekreische katapultiert sich das Triebwerk in Richtung Begrenzer bei 8700 Touren, beim Schaltwechsel scheint das ganze Auto nochmals einen Sprung nach vorne zu machen. Angesichts des unglaublichens Schubs und des Gezeters Im Heck stellen sich einem unweigerlich die Nackenhaare auf.
Doch Beschleunigungsorgien – wenn auch ohne klangvolle Untermalung – bieten mittlerweile alle mehrbesseren Elektroautos. Doch der Huracán Spyder Evo ist auch in Kurven ein Meister seines Fachs. Mit den Carbon-Keramik-Bremsen kann man selbst auf der Strasse den Bremspunkt dort setzen, wo das Hirn schon lange auf höchste Alarmstufe aufgrund von Abflug-Gefahr geschalten hat. Im Huracán kein Thema, stattdessen bremst man lässig in die Kurven rein, nur um dann sofort wieder aus der Kurve rauszuschiessen. Quer kommt der Allrad-Evo nur, wenn man es darauf anlegt.
Der Spyder wiegt zwar rund 120 Kilo mehr als das Coupé, doch diesseits der Rennstrecke ist dies nicht zu spüren. Dafür ist auch der Spyder hochperformant und bocksteif, das Auto macht absolut keinen Wank. Wie beim Coupé ist das Handling fast schon spielerisch leicht, aber auch nur, weil ausgeklügelte Software den nächsten Schritt zu antizipieren versucht und den Wagen auf Kurs haltet. Da die Wahrnehmung aufgrund des offenen Daches noch extremer ist – was zu Lamborghini passt – ist der Spyder puncto Fahrspass und Genuss tatsächlich eine Steigerung zum Coupé.
Der Motor als Epizentrum
Schlussendlich steht auch ein Lamborghini nicht über allem und auch der Huracán muss sich gegenüber Konkurrenten behaupten. Dabei ist der Testwagen-Preis von rund 312’000 Franken vollkommen zweitrangig, in dieser Liga ist das nicht mehr relevant, weshalb auch im Lamborghini-Konfigurator gar keine Preise ersichtlich sind.
Stattdessen definiert sich der Huracan Spyder über das extrem flache und aggressive Design sowie über seinen inbrünstigen V10-Sauger. Selbst im Jetset-Segment der Sportwagen ist so ein Motor mittlerweile eine Rarität und die Italiener wissen ihn gekonnt in Szene zu setzen. Als Allrad-Spyder wird das Auto vollends zum Genuss: Der Sound geht einem buchstäblich durch Mark und Bein, während der Schub zwar brachial, aber querdynamisch ohne grosses Drama vonstatten geht. Das perfekte Auto für schnelle Geniesser und Flanierer, während die RWD-Variante für echte Enthusiasten ist.
Alltag
Man kann es drehen und wenden wie man will, aber mehr als zwei kleine Sporttaschen bringt man nicht im Huracán Spyder unter und auch im Innenraum halten sich die Ablageflächen in sehr engen Grenzen. Gegen die Tücken der Strassen und Parkplätze helfen dafür das Lift-System vorne (optional) sowie die Allradlenkung (Serie).
Fahrdynamik
Wer nicht auf Zeitenjagd auf der Rennstrecke ist, wird gegenüber dem Coupé keine Performance-Abstriche spüren. Der Huracán reagiert auf Lenkbefehle wie ein Karnickel auf Speed, bremst wie das Ende eines Seils und beschleunigt wie ein Katapult. Bei jedem Manöver dabei: Maximales Feedback und das Gefühl von totaler Kontrolle.
Umwelt
Ein Anschluss an eine Erdölraffinerie wäre bei einem Testverbrauch von 16,7 l/100 km von Vorteil. Auf der (sehr gemütlichen) Langstrecke kann der Verbrauch auf unter 12 Liter sinken, aber bei Vollgas hört man das Benzin nur deshalb nicht rauschen, weil das Triebwerk im Nacken tobt wie der Weltuntergang.
Ausstrahlung
Der Lamborghini Huracán zieht alle Blicke auf sich und die Leute in seinen Bann. Sein Aussehen und sein Klang polarisieren und faszinieren gleichermassen.
Fazit
+ Design, das Köpfe reihenweise verdreht
+ Exzellente Verarbeitungsqualität, exquisite Materialien
+ Top Schalensitze mit viel Komfort und starkem Seitenhalt sowie perfekter Integration ins Auto
+ Online-Infotainmentsystem mit flüssiger Bedienung
+ Genügend Fahrkomfort für längere Strecken
+ Drei Fahrmodi mit grosser Spreizung
+ Infernalisches V10-Soundorchester
+ Unerreichbares Ansprechverhalten
+ Drehfreudiger und unglaublich aggressiver V10-Sauger
+ Grip ohne Ende, dezentes und effizientes ESP
+ Standfeste Bremse
+ Ultra-direkte Lenkung
+ Keine Assistenzsysteme
+ Beinahe grenzenlose Individualisierung
– Sehr hoher Verbrauch
– Kaum Platz für Gepäck, kaum Ablagen
– Teure Optionen, kostspielige Individualisierung
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Lamborghini Huracán Spyder Evo |
---|---|
Preis Basismodell / Testwagen | 276 000 CHF / 312 000 CHF |
Antrieb | Benzin, Allradantrieb |
Hubraum / Zylinder | 5204 ccm / V10 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Mittelmotor / Saugmotor |
Getriebe | 7-Gang Doppelkupplungsgetriebe |
Max. Leistung | 471 kW bei 8000 r/min |
Max. Drehmoment | 600 Nm bei 6500 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 3,1 s |
Vmax | 325 km/h |
WLTP-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 14,2 l/100 km / 338g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 16,7 l/100 km / 398 g/km / +18% |
Länge / Breite / Höhe | 4,52 m / 1,93 m / 1,18 m |
Leergewicht | 1542 kg (trocken) |
Kofferraumvolumen | 100 l |
Bilder: Koray Adigüzel