Vor ein paar Jahren war alleine der Gedanke völlig abstrus. Ein SUV? Von Lamborghini? Wie soll so ein Kasten neben den brutalen Supersportlern bitte aussehen? Also wirklich! Doch der Zeitgeist ändert sich und wenn Porsche als Sportwagenschmiede es geschafft hat, SUVs salonfähig zu machen, warum nicht auch Lamborghini? Mittlerweile sind die abstrusen Gedanken Geschichte und stattdessen macht der Urus die Strassen unsicher. Und weil Lamborghini eben Lamborghini ist, bringt der Urus zwar durchaus SUV-Tugenden mit, er ist klar das zahmste und umgänglichste Modell der Italiener. Aber das ist nur eine Seite. Die andere Seite ist… ziemlich obszön!
Ein Auto aus Sant’Agata Bolognese lebt von seiner Dramatik. Und davon bietet der Urus reichlich. Er sieht aus, als sei er dazu entworfen worden, Strassenschlachten zu bezwingen. Durch seine massiven Lüftungsschächte an der Front würden wahrscheinlich zwei Smarts passen, einer links, der andere rechts. Getreu der Designsprache von Lamborghini setzt auch der Urus auf eckige Formen, wie sie beispielsweise an den Kotflügeln sowie der Lichtsignatur zu erkennen sind. Abgerundet wird der dramatische und brachiale Auftritt durch bis zu 23″ grosse Felgen sowie durch schiere Grösse: 5,11 x 2,02 Meter misst der Urus.
Im Interieur treffen dafür zwei Welten aufeinander: Lamborghini und Audi, schliesslich ist der Q8 der (viel) zahmere Bruder des Urus. Ist das jetzt schlecht? Mitnichten! Virtual Cockpit und sensationelles Infotainment sind bis auf ein paar spezifische Inhalte direkt von Audi übernommen. Weiter punktet der grosse Stier unter anderem dank Audi mit erlesenen Materialien, top Sitzen und Ergonomie sowie eingängiger Bedienung. Weniger überragend ist dafür die Kopffreiheit im Fond, da ging das Design eindeutig vor.
Doch dieses kleine Manko geht umgehend flöten, sobald man die rote Kappe auf der Mittelkonsole öffnet, den Startknopf betätigt und das V8-Biturbo-Triebwerk startet. Unter wütendem Gebrüll bekundet der Stier seine Angriffslust! Über den sogenannten «Tamburo» auf der Mittelkonsole lassen sich links drei Onroad-, sowie drei Offroad-Fahrmodi auswählen. Rechts kann man sich den Ego-Modus zusammenstellen, was nichts anderes als eine für Lamborghini adäquatere Bezeichnung des Individual-Fahrmodus ist. Um den Stier nicht gleich vom Start weg zu sehr zu provozieren, lege ich im Strada-Modus los.
Erste Erkenntnisse: Das brachiale Gefährt lässt sich erstaunlich unkompliziert fahren. Für ein SUV ist die Sitzposition tief, die Handlichkeit dank Allradlenkung trotz ausufernden Ausmassen noch erträglich. Der potente Motor bleibt eher friedlich im Hintergrund, der Federungskomfort ist definitiv langstreckentauglich. Apropos Langstrecke: Abstandstempomat mit aktiver Spurführung, Notbremsassistent, Querverkehrswarner, Tot-Winkel-Warner sowie HUD stammen ebenfalls von Audi und funktionieren absolut einwandfrei.
Lamborghini hat ausserdem das richtige Mass an Assistenzsystemen in den Urus eingebettet. Im Gegensatz zu den Audi- und VW-Modellen reagiert der Abstandstempomat weder auf die Streckenführung, noch auf die Verkehrszeichenerkennung. Ein Eco-Modus samt Eco-Assistent wurde gar nicht erst übernommen, das wäre in diesem Auto ohnehin lächerlich. Was dafür hätte übernommen werden dürfen, ist das Matrix-Licht. Das simple an- und ausknipsen des Fernlichts wird der Klasse, in welcher sich der Urus bewegt, nicht ganz gerecht.
Aber eigentlich waren all meine Ausführungen bislang Banalitäten. Dinge, die mittlerweile jedes anständige SUV im Schlaf beherrscht. Worauf es hier wirklich ankommt, sind die Fahrmodi Sport und Corsa, wobei ich den Corsa-Modus aufgrund des noch heftigeren Sounds favorisiere. Zwei schnelle Klicks am Tamburo, der Lambo versteift sich in Sekundenbruchteilen, das Getriebe schaltet zwei Gänge runter, ein dynamischer Drehzahlmesser wird ins Head-Up-Display eingeblendet und der Puls schiesst in die Höhe. Noch einmal kurz durchatmen, dann… Feuer frei!
Kickdown. Der Urus zieht nicht nach vorne, er katapultiert sich nach vorne! Dabei brüllt der Stier insbesondere im Corsa-Modus in einer Hemmungslosigkeit alles nieder, dass beinahe Zweifel an der Legalität dieses Soundspektakels kommen. Alles andere als zurückhaltende Auspuffknaller beim Lupfen des Gaspedals runden das Spektakel ab. Und weil eben immer geht, ist sogar ab Werk eine Akrapovic-Auspuffanlage erhältlich.
Ja, der Abschuss aus dem Stand bis Tempo 100 ist extrem beeindruckend, doch was danach passiert ist schlicht nur noch Wahnsinn. Als gäbe es keinen Luftwiderstand, prescht das Mega-SUV auf die 200er-Marke zu. 2272 Kilo werden hier nach vorne geschossen und es fühlt sich nicht von dieser Welt an. Die Strassenlage ist auch bei hohem Tempo sensationell und wer heftig bremst, bekommt erst recht keine Luft mehr: 42 Zentimeter grosse Carbon-Keramik-Bremscheiben sorgen für eine wortwörtlich atemberaubende Verzögerung, ohne dass der Urus dabei vorne einknickt. Doch die überlegene Längsdynamik ist nur der Anfang.
Was der Brocken in Kurven zu leisten vermag, lässt einen an den Grenzen der Physik zweifeln. Selbst mit den montierten Winterreifen fängt der Urus erst in sehr engen, sehr schnell angefahrenen Kehren leicht an zu untersteuern. Übersteuern? Lässt sich bestimmt provozieren, doch wer eine saubere Linie fährt kann ab dem Scheitelpunkt voll ans Gas und der Allradantrieb erledigt den Rest. Die Allradlenkung sowie die aktive Wankstabilisierung tragen ihr übriges dazu bei, dass das SUV sich vergleichsweise sehr handlich und stabil anfühlt. Zu guter Letzt sorgt die sehr mitteilsame Lenkung dafür, dass man die Vorderachse quasi im Handgelenk fühlt und somit sehr schnell eine tiefe Verbundenheit zum Auto aufgebaut wird.
Trotzdem wirft das alles die Frage auf, ob es es dieses Auto wirklich braucht? Aus unternehmerischer Sicht betrachtet: Ja, unbedingt! Denn Aventador und Huracàn sind wirklich nicht sonderlich alltagstauglich, bereits ein kleiner Shopping-Trip dürfte die reinrassigen Sportler an die Grenzen bringen. Mit dem Urus haben die Italiener nun das perfekte Ergänzungsangebot im Portfolio: Kunden müssen für ein praktischeres Auto nicht mehr die Marke wechseln, sondern können Lamborghini die Treue halten. Denn wer sich für eine Viertelmillion oder mehr einen Sportwagen leisten kann, kann sich für eine weitere Viertelmillion auch ein SUV dazu leisten. So einfach ist das.
Der Testwagen kostet 214’000 Euro zuzüglich Steuern, darüber hinaus zeigt der Testverbrauch von 13,9 l/100 km, wohin die Reise mit dem Spritverbrauch gehen kann. Aber diese Eckdaten spielen in diesem Segment ohnehin bloss eine untergeordnete Rolle. Lamborghini spricht von einem «Super Sport Utility Vehicle» und im Gegensatz zum üblichen Marketing-Geplapper trifft diese Aussage den Nagel auf den Kopf. Ein extremeres SUV hat derzeit kein anderer Serienhersteller zu bieten. Und so ganz nebenbei vermag das irre Gefährt auch noch 3500 Kilo zu ziehen. In diesem Sinne: Gut gebrüllt, Stier!
Alltag
Ohne Zweifel ist der Urus sehr alltagstauglich, aber Luxus und Design gingen eindeutig vor. So bleibt aufgrund den beiden Einzelsitzen im Fond die Variabilität auf der Strecke und das stark abfallende Dach kostet Kopffreiheit. Aber Lamborghini war schliesslich noch selten für Kompromisse bekannt.
Fahrdynamik
Wenn ein SUV es selbst mit den Rennstrecken dieser Welt aufnehmen kann, braucht es dazu eigentlich nicht mehr viel zu sagen. Was der Urus längs- und querdynamisch abliefert, ist schlicht und ergreifend wahnsinnig.
Umwelt
Start-Stopp-Automatik sowie Zylinderabschaltung sind an Bord und auf langen Autobahnetappen kann man den Verbrauch um die 10 Liter halten. Wenn das V8-Triebwerk allerdings richtig loslegt, wird Benzin aus dem Tank gefördert wie Rohöl aus einem Bohrloch.
Ausstrahlung
Bereits im Stand wirkt der Urus so brachial und dramatisch, dass er die Blicke wie ein Magnet auf sich zieht. Wer den grossen Auftritt mag, wird mit dem Auto definitiv glücklich. Was aber gar nicht Lambo-Like ist: Die hundsgewöhnlichen Türgriffe. Also bitte!
Fazit
+ Brachiales, polarisierendes Design
+ Top Ergonomie, ausgezeichnete Sportsitze mit exzellenten Massage-Funktionen
+ Umfangreiches Infotainmentsystem mit intuitiver Bedienung
+ Sehr gute Geräuschdämmung
+ Toller Fahrkomfort auf der Langstrecke
+ Einwandfreie und zuverlässige Assistenzsysteme ohne Bevormundung
+ Starke Spreizung zwischen den Fahrmodi
+ Irre Beschleunigung
+ Markanter, rauer und sportlicher Sound
+ Brutale Bremsleistung
+ Fantastische Querdynamik, stoische Stabilität
+ Sehr direkte und mitteilungsfreudige Lenkung
+ Erträgliche Handlichkeit dank Allradlenkung
+ Hohes Mass an Personalisierung
– Eingeschränkte Kopffreiheit im Fond
– Kein Matrix-Licht
– Sehr hoher Verbrauch
– Teils hohe Aufpreise für Sonderausstattungen
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Lamborghini Urus |
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Preis Basismodell / Testwagen | 171 429 € / 214 067€ (exkl. MwSt.) |
Antrieb | Benzin, Allradantrieb |
Hubraum / Zylinder | 3996 ccm / V8 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Frontmotor / Biturbomotor |
Getriebe | 8-Gang Automatikgetriebe |
Max. Leistung | 478 kW bei 6000 r/min |
Max. Drehmoment | 850 Nm bei 2250 - 4500 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 3,6 s |
Vmax | 305 km/h |
NEFZ-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 12,3 l/100 km / 279 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 13,9 l/100 km / 315 g/km / +13% |
Länge / Breite / Höhe | 5,11 m / 2,02 m / 1,64 m |
Leergewicht | 2272 kg |
Kofferraumvolumen | 616 - 1596 l |
Bilder: Koray Adigüzel