Maserati Ghibli S: Klasse statt Masse

Maserati – ein auf der Zunge zergehender Name, den die Leute instinktiv mit Sportwagen, heissem Sound und italienischer Leidenschaft gleichsetzen. Kein Wunder, schliesslich ist Maserati eng mit Ferrari verwandt. Maserati möchte aber in den nächsten Jahren die Verkaufszahlen drastisch erhöhen, deshalb wurde mit dem Ghibli kein reinrassiger Sportwagen, sondern eine Sportlimousine lanciert, die es mit den Platzhirschen BMW 5er, Audi A6 und Mercedes E-Klasse aufnehmen soll. Maserati bietet hierfür sogar erstmals in seiner Geschichte einen Diesel an, aber das passt für mich ganz und gar nicht zu der italienischen Sportwagenschmiede. Zum Test tritt der Ghibli S an, mit einem feinen V6 Biturbo und Heckantrieb ausgerüstet. Diesel? Allrad? Wo bleibt da die italienische Leichtigkeit und Leidenschaft?

Beim Design geht Maserati den Weg der Deutschen. Ob A4 oder A6, 3er oder 5er, es ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Auch bei Maserati muss man zweimal hinschauen, um zu realisieren, ob der neue, kleinere Ghibli oder der grosse Bruder Quattroporte vor einem steht. Wobei sich “klein” relativiert, sobald man den Ghibli vor sich hat. Mit einer Länge von 4,97 Meter und einer Breite von 1,95 Meter steht der Ghibli satt und selbstbewusst auf der Strasse. Die Front ist, wie bei Maserati üblich, mit den schlitzförmigen Scheinwerfern und dem grossen Kühlergrill sehr aggressiv gestaltet – es scheint, als ob der Ghibli jederzeit auf der Suche nach potenziellen Opfern wäre. Die optische Aggressivität geht aber auf dem Weg nach hinten verloren. Seitlich verraten nur noch die Kiemen an der Flanke sowie der Dreizack in der C-Säule und am Heck die vier dicken Endrohre, dass im Ghibli genügend Potenz schlummert. Dass der Ghibli als Sportlimousine über rahmenlose Scheiben verfügt, ist Ehrensache. Immerhin bezeichnet Maserati ihn nicht als viertüriges Coupé.
Der Innenraum ist sehr luxuriös eingerichtet. Äusserst hochwertiges Leder soweit das Auge reicht, ein Alcantara-Dachhimmel und offenporiges Holz schaffen in meinem Testwagen ein gehobenes Ambiente. Bezüglich der Innenraumeinrichtung bietet Maserati den Kunden sehr viel Freiheit, was die Wahl der Materialien, Farben und Zierelementen angeht. Die Verarbeitungsqualität ist sehr hoch, da steht Maserati den deutschen Herstellern in nichts nach. Das übersichtliche und einfach zu bedienende Mediasystem ist identisch mit demjenigen vom Jeep Grand Cherokee. Da fast alle Funktionen über den zentralen Touchscreen gesteuert werden, ist die Anzahl Knöpfe im Cockpit gering. Die beiden Schalterchen auf dem Lenkrad für die Bedienung des Tempomats und des Bordcomputers sind aber sehr fummelig und unangenehm zu bedienen. Apropos Bordcomputer: Wer für die Meldung “Sport Federung Modus auf” (siehe Bilder) verantwortlich ist, sollte dringend einen Deutschkurs besuchen. Solche Patzer sind in einem Weltkonzern (Fiat) einfach nicht tolerierbar!
Angesichts der fast schon ausufernden Aussenmassen und des immensen Radstands von knapp drei Metern ist das Raumgefühl alles andere als luftig. Während man die Separierung von Fahrer und Beifahrer durch die massive Mittelkonsole vorne noch als sportwagenmässig bezeichnen kann, gibt es für die geringe Beinfreiheit hinten auf Niveau der Kompaktklasse keine Entschuldigung. Die Rückbank wäre dank angenehmer Polsterung und stützender Ausformung so bequem, aber es mangelt einfach massiv an Beinfreiheit. Der Kofferraum fasst 500 Liter Volumen, was gemessen an der Fahrzeuglänge auch kein überwältigender Wert ist – wobei bei einem Maserati eher das Volumen unter der Motorhaube interessiert…

Unter der geschwungenen Haube steckt nämlich die Macht des Bösen. Ein V6 Biturbo mit 301 kW und 550 Nm lässt seine Kraft via der 8-Stufen-Automatik von ZF ungefiltert an der Hinterachse wirken. Beim Start markiert der V6 deutliche akustische Präsenz, übertreibt es allerdings beim Cruisen nicht mit seinen Äusserungen, vielmehr ist sein dezenter, grummeliger Klang einfach immer gut wahrnehmbar, was – zumindest auf mich – eine äusserst beruhigende Wirkung entfaltet, da man weiss, dass jederzeit genügend Leistung vorhanden ist. Der Testwagen war mit dem elektronisch verstellbaren Skyhook Fahrwerk ausgerüstet und in der Comfort Stellung rollt der Ghibli erstaunlich geschmeidig ab, was wahrscheinlich auch an den montierten 19″ Felgen liegt. Ich bezweifle, dass der Abrollkomfort mit den optionalen 21-Zöllern (5105 CHF Aufpreis) immer noch so gut wäre. Passend für die Autobahn bietet der Maserati auch noch den I.C.E (Increased Control and Efficiency) Modus, welcher für eine weiche Gasannahme, frühzeitiges Hochschalten, und erhöhte Traktionskontrolle sorgt. Das soll helfen, Sprit zu sparen oder bei miesen Strassenverhältnissen das Heck unter Kontrolle zu halten.
Das Biest im Ghibli ist nur zwei Knöpfe entfernt: Knopf eins schärft Motor und Getriebe; Knopf zwei schärft Fahrwerk und Lenkung. Der Sound ist nun durch die geöffneten Auspuffklappen ebenfalls deutlich lebendiger. Sofort bemerkbar macht sich die Lenkung, die plötzlich sehr direkt ist und messerscharf auf jede noch so kleine Bewegung reagiert. Schade, dass das Lenkrad etwas zu gross geraten ist, ein handlicheres Volant wäre wünschenswert. Nichtsdestotrotz ist die Lenkung ein wahres Präzisionsinstrument in diesem knapp zwei Tonnen schweren Auto. Wobei diese Masse sowie vergessen geht, sobald man den geschärften Ghibli mit den optionalen Schaltpaddels eine kurvige Bergstrasse hochjagt, jeder Schaltvorgang kräftig akustisch untermalt und die Teufelsmusik des V6 Biturbos von den Felswänden zurückgeworfen wird. Ganz grosses Kino, wie zackig und präzise sich so ein grosses Auto steuern lässt, da steht der Ghibli Porsches Panamera in nichts nach. Auch die Brembo Bremse ist genauso präzise wie die Lenkung, sie lässt sich ganz fein dosieren und beisst bei Bedarf gnadenlos zu. Ein mechanisches Sperrdifferential sorgt dafür, dass die Hinterachse mit der Kraft auch klar kommt, was auf trockener Strasse meistens gut gelingt. Bei nasser Strecke entwickelt das Heck ein nicht zu unterschätzendes Eigenleben. Vor allem im Sportmodus verlangt der Maserati geschärfte Sinne, denn das äusserst performanceorientierte ESP greift erst sehr spät und nur dezent ein. Italienische Leichtigkeit eben.
Für sein Orchester möchte der V6 natürlich ordentlich entlöhnt werden, laut Werk mit 10,4 l/100 km. Wer es wie ich gerne etwas schneller mag und in Tunnels die gewaltige Stimme des Triebwerks geniessen möchte, muss mit Verbräuchen von 15,9 l/100 km rechnen.

Interessanterweise ist der Ghibli absolut gesehen etwas günstiger als vergleichbare deutsche Konkurrenten. Dafür bietet er herrlichen Sound, viele Individualisierungsmöglichkeiten, feinstes Leder und Emotionen pur. Maserati hat mit dem Ghibli ganz klar einen Cruiser und einen Sportwagen gleichzeitig erschaffen. So scharf, emotional und individualisierbar sind die deutschen Premium-Autos nicht. Für Ihre Preise bieten sie dafür eine bessere Raumausnutzung, erweiterte Infotainmentsysteme mit Online-Anbindung, geringere Verbrauchswerte und vor allem die ganze Palette an Assistenzsystemen. Da sieht der Ghibli mit seinem einzigen Assistenzsystem, dem Fernlichtassistenten, ziemlich alt aus. Dass der Maserati keinerlei solche Systeme zur Verfügung hat, erscheint mir umso unverständlicher, da der ebenfalls aus dem Fiat-Konzern stammende Jeep Grand Cherokee über einige Assistenzsysteme verfügt. Insofern erscheint der Preis meines Testwagens von 110’432 CHF doch wieder ziemlich hoch, da die Deutschen Autos über erweiterte Ausstattungsmöglichkeiten verfügen. Reine Kopfmenschen wird der Ghibli so nie für sich gewinnen. Es braucht dafür schon Leute, die für Liebe auf den ersten Blick empfänglich sind, wenn die Hand über die edlen Sitze streift und dem Start des Biturbos gelauscht wird. Die Innenausstattung und die emotionale Kraft des Antriebs vom Ghibli kombiniert mit der reichhaltigen Ausstattung und dem pragmatischen Ansatz eines deutschen Nobelschlittens – das wäre die perfekte Businesslimousine. Das ist der Ghibli aber nicht – sondern einfach eine Klasse für sich mit ganz eigenem Charme.

Alltag ★★★☆☆

Gemessen an den üppigen Aussenabmessungen ist der Platz innen eher beschränkt, ausserdem ist bei engen Gassen und Tiefgaragen Vorsicht geboten. Assistenzsysteme für die lange Reise bietet der Ghibli keine, dafür geschmeidigen Abrollkomfort.

Fahrdynamik ★★★★★

Wird der Ghibli scharf gestellt, sind Grösse und Gewicht schnell vergessen, denn die rasiermesserscharfe Lenkung und der brachiale Durchzug in Verbindung mit dem vollendeten Sound zaubern ein Dauergrinsen ins Gesicht des Fahrers.

 Umwelt ★★☆☆☆

Wer das fahrdynamische Talent und die Sounddynamik voll ausnutzt, dem vergeht das Grinsen spätestens an der Tankstelle, denn im Test (zugegebenermassen nicht sehr repräsentativ gefahren) verlangte der Ghibli 15,9 (!) l/100 km. Es geht garantiert auch mit weniger, immerhin bietet er ja den I.C.E. Modus an. Aber bereits der Normverbrauch von 10,4 /100 km zeigt, dass der Italiener generell ein trinkfester Geselle ist.

Ausstrahlung ★★★★★

Bis auf das etwas brave Heck wirkt der Maserati Ghibli sehr kräftig und ausserordentlich gut gebaut. Er lässt bereits im Stand seine Muskeln spielen, bewahrt aber die Eleganz.

Fazit ★★★★☆

+ Top Verarbeitungsqualität
+ Feinste Materialien
+ Einwandfreie Ergonomie
+ Geschmeidiger Abrollkomfort
+ Scharfe, präzise und direkte Lenkung
+ Skyhook Fahrwerk
+ Starker Durchzug, kein Turboloch
+ Schnell agierende ZF-Automatik
+ Betörender Sound
+ Auch als Allrad und Diesel erhältlich (es ist halt schon ein Vorteil)
+ Viele Individualisierungsmöglichkeiten (gegen Aufpreis, versteht sich)

– Wenig Beinfreiheit im Fond
– Verhältnismässig kleiner Kofferraum
– Keine Assistenzsysteme
– Hoher Verbrauch
– Es fehlt allgemein ein pragmatischerer Ansatz

Der Testwagen, ein Vorführmodell, wurde netterweise von der Obere Au Garage in Chur zur Verfügung gestellt. Er kostet mit 7600 km auf der Uhr rund 99’800 CHF. Wer also an Liebe an den ersten Blick glaubt, bitte sehr…

Steckbrief

Marke / ModellMaserati Ghibli S
Preis Basis­modell / Testwagen73'550 CHF / 110'432 CHF
AntriebBenzin, Heckantrieb
Hubraum / Zylinder2979 ccm / V6
Getriebe8-Stufen Automatik
Max. Leistung302 kW bei 5500 r/min
Max. Drehmoment550 Nm bei 4500- 5000 r/min
Beschleu­nigung 0–100 km/h5,0 s
Vmax285 km/h
Verbrauch Werk / CO2 Emissionen / Energieeffizienz10,4 l/100 km / 242 g/km / G
Verbrauch Test / CO2 Emissionen15,9 l/100 km / 370 g/km
Länge / Breite / Höhe4,97 m / 1,95 m / 1,46 m
Leergewicht1950 kg
Koffer­raum­volumen500 l

(Bilder: Koray Adigüzel, Maserati)

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