Grosser Name, grosse Worte, grosse Versprechungen: Nein, Mercedes hat das Elektroauto nicht neu erfunden. Dennoch rühmt sich der Erfinder des Autos mit genauso grossartigen wie bahnbrechenden Neuerungen. Mit dem Mercedes EQS ist erstmals ein Elektroauto in der absoluten Luxusklasse angekommen. Hier spielt Geld keine grosse Rolle mehr, doch Raum für Kompromisse exisitert hier nicht. Wodurch hebt sich der EQS also von allen anderen Elektroautos ab? Und wird er dem Ruf als elektrische S-Klasse gerecht?
EQA, EQB und EQC sind zwar alles vollelektrische Autos, doch trotz EQ-Design sitzen sie immer noch auf einer für Verbrenner ausgelegten technischen Plattform. Hauptmerkmal: Die lange Motorhaube, obwohl sich dort relativ wenig Technik darunter verbirgt. Mit dem EQS ändern sich nun die Vorzeichen: Er ist von Grund auf als Elektroauto konzipiert und das spiegelt sich auch im Design wieder.

Ein Schwung
One-Bow nennt Mercedes dieses Design. Nach der kurzen Schnauze zieht sich die Dachlinie in einem einzigen Schwung von der Windschutzscheibe bis zur Abrisskante durch. Damit wirkt er nicht wie eine klassische Staatslimousine wie die S-Klasse, sondern tritt anmutig wie ein Gran Turismo daher. Grosse Felgen und rahmenlose Scheiben unterstreichen den sportlichen Eindruck, während die Karosserie mit bündigen Türgriffen und ohne Sicken und Kanten sehr clean wirkt.

Im Gegensatz zur S-Klasse mit zwei Radständen gibt es den EQS nur so, wie er hier dasteht. Mit seinen 5,22 Metern Länge ist er deutlich näher am langen Radstand als am kurzen der S-Klasse, doch der EQS wirkt kleiner als er tatsächlich ist. Die langgezogene Dachlinie, der fehlende Kühlergrill und das flache Heck mit Abrisskante sorgen gemeinsam mit vielen anderen Details an Aussenspiegeln und Unterboden dafür, dass der cW-Wert nur 0,20 beträgt. Rekord für ein Serienauto!

Gut – besser – am besten – hyper
Für einen grossen Touchscreen hat heute jeder nur noch ein müdes Lächeln übrig. Also geht Mercedes bei seinem Elektro-Flaggschiff einen Schritt weiter und präsentiert die jüngste MBUX-Version auf dem sogenannten Hyperscreen. Unter einer bündigen Glasfläche sitzen das digitale Cockpit des Fahrers, der zentrale 17,7″ Touchscreen, der sich nach unten hin verjüngt sowie ein Touchscreen für den Beifahrer. Das sorgt für staunende Blicke und wirkt dank OLED-Technologie gestochen scharft und echt abgefahren. MBUX ist im EQS besser denn je, was unter anderem an der geballten Rechenpower von acht CPU-Kernen sowie 24 GB RAM liegt. Darüber hinaus wurde die Menüstruktur leicht verbessert, sodass häufig benötigte Funktionen direkt auf dem Homescreen erreichbar sind.

Mit lockerer Selbstverständlichkeit berechnet das Navi auf der Route die optimalsten Ladestopps mit ein, Online-Navigation- und Sprachsteuerung sind perfekt implementiert. Obwohl wir das Jahr 2022 schreiben, ist der Mercedes EQS nach wie vor eines der wenigen Autos, die bei der Bedienung die Reaktionszeit bieten, welche man sich von einem modernen Smartphone gewohnt ist. Allen Superlativen zum Trotz ist das Beifahrer-Display ganz klar mehr Spielerei als Pflicht-Gadget. Ausserdem fehlen nach wie vor native Streaming-Apps, damit man beispielsweise während eines Ladestopps auf dem zentralen Screen eine Episode seiner Lieblings-Serie schauen kann. Das Display ist scharf genug, der Sound im Auto ohnehin bombastisch, also wo bleiben die Apps?

Luxus trifft Nachhaltigkeit
Der Innenraum des EQS ist für die Augen, aber auch für die Umwelt ein Genuss. Grund dafür sind zum Teil Materialien, die aus altem Kunststoff oder PET recycelt wurden. Die Haptik mag nicht ganz an Alcantara oder exquisites Leder herankommen, doch der Öko-Approach soll hier gelten. Abgesehen davon gibt es puncto Qualität und Verarbeitung nur das Beste vom Besten aus dem Hause Daimler.

Wobei es punktuell dennoch Kritik anzubringen gibt: Vorne dürfte der Seitenhalt etwas ausgeprägter sein, denn der EQS ist alles andere als unsportlich und behäbig. Hinten sitzt man zwar auf einer bequemen Sitzbank, aber es ist halt keine EInzelsitz-Anlage mit Verstellmöglichkeit. Dass es im Fond bei einem Testwagen-Preis von knapp 194’000 Franken an einer Sitzheizung fehlt, ist eine ziemliche Frechheit. Und zu guter Letzt ist die Sitzposition generell etwas zu hoch, was dem Akku im Unterboden geschuldet ist.

Der Langstrecken-Läufer
Letzterer ist im Falle des EQS 580 der derzeit grösste von allen Elektroautos und bietet eine nutzbare Kapazität von knapp 108 kWh. Damit verspricht das Auto eine WLTP-Reichweite von 676 Kilometer. Das schwächere Heckantrieb-Modell EQS 450 soll sogar 760 Kilometer weit kommen. Das sind Werte auf Verbrenner-Niveau, aber leider immer noch graue Theorie. Während der Winterbetrieb oder gelegentliche sportliche Passagen einem Verbrenner nicht gross zusetzen, leidet der EQS unter Minustemperaturen und sportlichen Fahrten.

Immerhin: Dank der grossartigen Windschlüpfrigkeit sind längere Autobahnpassagen im Gegensatz zu E-SUVs weniger problematisch. Im Winter-Test erreichte ich eine Praxis-Reichweite von 400 Kilometern. Dies darf somit als Minimum verstanden werden. Wer der Versuchung der gewaltigen Kraft öfters wiedersteht wie ich und im Sommer fährt, dürfte problemlos über 500 Kilometer Reichweite erzielen. Für die angegebenen 676 Kilometer bedarf es wohl eines sanften Gasfusses.

Leisetreter im Anmarsch
Im Prinzip ist es nicht sonderlich schwer, es im EQS sachte angehen zu lassen. Das Geräuschkomfort erreicht durch den Elektroantrieb und die Aerodynamik ein neues Niveau und der EQS dürfte diesseits von Rolls-Royce eines der leisesten Autos überhaupt sein. Selbstredend rollt der EQS auf einem Luftfahrwerk in aller Gemütlichkeit dahin, doch im Gegensatz zur S-Klasse ist der Stromer einen Tick mehr auf aktives Fahren ausgelegt, was sich vor allem in der direkteren und härteren Lenkung widerspiegelt.

Obwohl der Wagen mit über 2700 Kilo ein echtes Schwergewicht ist, pushen die 855 Nm Drehmoment kraftvoll vorwärts. Im Comfort-Modus noch einigermassen gesittet, doch im Sport-Programm überfällt einen die Power regelrecht und es kommt zum bekannten Kick in den Hintern und das bei einer Luxuslimousine. Gefällt! Während der Akku-bedingte tiefe Schwerpunkt bei SUVs konstruktionsbedingt sein volles Potenzial nicht voll entfalten kann, gelingt das beim EQS. Der Wagen fühlt sich schwer an, ja, aber der Grip bei sportlichen Kurvenpassagen ist beachtlich.

Ein weiteres Highlight ist die Hinterachs-Lenkung, welche Winkel bis zu 10° ermöglicht. Der Wendekreis sinkt somit auf das Niveau einer A-Klasse, während man bei kurvigen Strassen von einem agilen und sogar leicht hecklastigem Fahrerlebnis profitiert. Als Alternative zur Stille im Autos sind drei verschiedene Sound-Profile aktivierbar. Wie alle E-Autos mit einem Gimmick dieser Art klingt der EQS damit nach mehr oder minder aggressivem Raumschiff. Wenn das der “Motorsound” der Zukunft sein soll, dann gute Nacht.

Das mitdenkende Auto
Dass der EQS über alle State of the Art Assistenzsysteme verfügt, ist selbstverständlich. Doch obwohl die meiste Techologie auch in deutlich günstigeren Autos verfügbar ist, so merkt man im EQS dennoch die Superlative. Der Drive Pilot lenkt auf der Autobahn so sanft mit, dass es überhaupt nicht störend ist. Das digitale Matrix Licht schneidet andere Autos so präzise aus dem Lichtkegel, wie es nur mit dieser Technologie möglich ist.

Doch auch ohne aktivierte Assistenzsysteme denkt das Auto mit, wenn mit langem Zug an einem Schaltpaddel die Rekuperation auf «intelligent» umgestellt wird. Dank starker Rekuperationsleistung ist somit entspanntes One-Pedal Fahren möglich. Bei freier Fahrt lässt es der EQS einfach rollen sobald man vom Gas geht. Wird ein niedrigeres Tempolimit oder ein Fahrzeug erkannt, rekuperiert er automatisch aufs angepasste Tempo, sogar bis zum Stillstand. Nur für wirklich starke Bremsungen reicht die Rekuperation nicht aus. Darüber hinaus empfiehlt das Auto situativ, den Fuss vom Gas zu nehmen, weil demnächst ohnehin verlangsamt werden muss oder es bergab geht. Das funktioniert so smart, dass man auch bei strikter Befolgung des Eco-Rats nicht zum Verkehrshindernis wird.

Die elektrische Spitze, aber keine Alternative
Ist der EQS also eine elektrische S-Klasse? Die Antwort lautet: nein. Technisch spielt er nichtsdestotrotz in derselben Liga. Der EQS ist ein rollender Cyber-Held und macht seine Technologie sowohl beim Fahren, als auch beim Infotainment relativ einfach zugänglich. Zudem nutzt Mercedes die Vorteile der neuen Elektro-Plattform für ein neuartiges Design sowie generöse Platzverhältnisse. Dank akribischer Aerodynamik hält sich zudem der Stromverbrauch auf der Autobahn in Grenzen und der grosse Akku ermöglicht hohe Reichweiten. «Das Beste oder nichts» verfehlt der EQS aber bei der Ladetechnik. 200 kW Ladeleistung sind zwar ein ordentlicher Wert, doch beim ganzen Technologie-Approach dieses Autos würde ich 300 kW erwarten.

Der Komfort ist formidabel, obschon ein wenig unterhalb der S-Klasse, da der EQS das fahraktivere Auto ist. Dafür setzt der EQS beim Geräuschkomfort neue Massstäbe. Den Luxus-Anspruch erreicht er aber nur vorne und das ist der grosse Unterschied zur S-Klasse. Obwohl er hinten auch sehr viel Platz bietet, so ist eine ordinäre Sitzbank im Falle des Testwagens sogar ohne Sitzheizung definitiv nicht S-Klasse like. Um also gehobene Kundschaft zu chauffieren, führt nach wie vor kein Weg an der S-Klasse vorbei, die es auch als Plug-in-Hybrid gibt. Beim Preis ist der EQS dann wieder ganz on top: 193’815 Franken müssen erstmal verdaut werden.

Alltag 
Der Mercedes EQS bietet auf allen Plätzen sehr grosszügige Platzverhältnisse und einen riesigen, wenn auch etwas flachen Kofferraum. Dank der enormen Allradlenkung ist das Auto trotz der Länge recht handlich. Viele Ablagen runden das Paket ab.
Fahrdynamik 
Für eine deutlich über fünf Meter lange Limousine ist der EQS ziemlich fahraktiv. Der Schub ist kräftig, der Grip sehr hoch, die Lenkung für so ein Schiff erstaunlich definiert. Der Schwerpunkt liegt sehr tief und das sehr hohe Gewicht wird zum Teil kaschiert. Wer unbedingt mehr wil: Es gibt bereits eine AMG-Version und sie wird nicht die Letzte sein.
Umwelt 
Im Test konnte der EQS seinen tiefen WLTP-Verbrauchswert nicht einhalten. Unter dem Strich verbrauchte er 29,0 kWh/100 km an Strom. Für winterliche Bedingungen gemessen an Gewicht und Leistung nicht schlecht, aber kein Benchmark.
Ausstrahlung 
Dezentes, sehr cleanes und modernes Design zeichnet des EQS aus. Die durchgehenden Lichter vorne wie hinten sind ein zusätzlicher Blickfang. Er wirkt optisch etwas kleiner, als er tatsächlich ist.
Fazit 
+ Modernes, elegantes und cleanes Design
+ Materialqualität und Verarbeitung auf Spitzen-Niveau
+ Auf Wunsch ökologische Materialien im Innenraum
+ Erstklassiges Infotainmentsystem mit weitreichenden Online-Diensten und top Sprachassistent, Hyperscreen als Blickfang
+ Sehr bequeme Sitze mit diversen Massageprogrammen
+ Extrem niedriger Geräuschpegel
+ Weltrekord beim cW-Wert (0,20)
+ Riesiger Akku sorgt für eine hohe Reichweite
+ Geschmeidiger Fahrkomfort
+ Kräftiger Schub, kann aber auch fein dosiert werden
+ Hecklastiges Handling, direkt zupackende Lenkung
+ Sehr hohes Grip-Niveau
+ Tiptop arbeitende Assistenzarmada
+ Erstklassiges Digital Light
+ Extreme Hinterachslenkung
– Sitzposition leicht zu hoch, Seitenhalt dürftig
– Überschaubare Grundausstattung, dafür viele und teure Sonderausstattungen
– Sehr hohes Gewicht
– Für die Luxusklasse nur durchschnittliche Ladeleistung
– Keine nativen Video-Apps fürs Infotainmentsystem verfügbar
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Mercedes-Benz EQS 580 4Matic |
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Preis Basismodell / Motorisierung / Testwagen | 124 200 CHF / 165 400 CHF / 193 815 CHF |
Antrieb | Elektrisch, Allradantrieb |
Akkukapazität | k.A. kWh (brutto) / 108 kWh (netto) |
Max. Leistung | 385 kW |
Max. Drehmoment | 855 Nm |
Beschleunigung 0–100 km/h | 4,3 s |
Vmax | 210 km/h (elektronisch abgeregelt) |
WLTP-Verbrauch / Energieeffizienz | 21,8 kWh/100 km / A |
Test-Verbrauch / Differenz | 29,0 kWh/100 km / + 33% |
WLTP-Reichweite | 676 km |
Ø Test-Reichweite | 410 km |
Länge / Breite / Höhe | 5,22 m / 1,93 m / 1,51 m |
Leergewicht | 2709 kg |
Kofferraumvolumen | 610 - 1770 l |

























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