Die Ausgangslage könnte günstiger sein: Protzige Karren der Luxusklasse werden von gewissen Kreisen verpönt. Semi-autonom fahren kann mittlerweile jeder vernünftige Kompaktwagen. Zu allem Überfluss kommt noch die Mobilitätswende. Wie soll sich da die neue Mercedes S-Klasse einordnen? Immerhin verpflichtet die Tradition und die will, dass das Auto nicht nur der Konkurrenz, sondern gar den Trends einen Schritt voraus ist. Geht die Rechnung auf? Oder verliert sich Mercedes in der Vergangenheit?
Der Auftritt
Die neue S-Klasse pflegt einen gleichermassen eleganten wie dezenten Auftritt. Neben einschlägigen britischen Luxuskarossen würde die S-Klasse selbst in der hier getesteten Langversion kaum auffallen. Das ist ein kleines Kunststück der deutschen Designer, denn der Testwagen ist ellenlang, die Überhänge sind riesig, der Radstand endlos und dennoch wirkt das Auto dank der sanften Linienführung nicht wie ein Klotz.
Trotz des mondänen Designs mit Hightech-Leuchten (vorne Pixel-LED, hinten OLED) und bündigen Türgriffen dürfen klassische Akzente nicht fehlen. Da wäre zum einen natürlich der obligate Stern auf der Haube sowie der verchromte Kühlergrill. Der in Nautikblau lackierte Wagen steht auf 21-Zöllern und trägt das AMG-Paket, womit das Design einen sportlichen Touch kriegt, ohne aggressiv zu wirken. Dass hier quasi die Speerspitze deutscher Ingenieursleistung steht, tritt in den Hintergrund. Ein erhabener, aber 2021-konformer Wagen ohne Bling-Bling. Tradition und Moderne sind verbunden, als wäre es eine Selbstverständlichkeit.
Der erste Eindruck
Die Türgriffe fahren aus, sobald man sich dem Auto nähert. Sie funktionieren elektromechanisch, das heisst, ein Zug am Türgriff sorgt dafür, dass sich die Tür wie von alleine ein bisschen öffnet. Das ist zwar ganz nett, jedoch besteht zwischen Zug und Türöffnung eine Verzögerung von einem Sekundenbruchteil. Eine Kleinigkeit, doch in der S-Klasse erwarte ich Perfektionismus bis ins Detail und so eine Lapallie sollte meiner Meinung nach nicht sein.
Das Interieur ist dafür ein durch und durch mit Leder bezogener Traum und alleine über den Innenraum liesse sich ein ganzer Artikel verfassen. Es fehlt den Insassen an nichts: Die Sitze kombinieren ausreichenden Seitenhalt mit einem Grad an Sitzkomfort, wie man ihn ansonsten nirgendwo findet. Lüftung, Heizung und nicht weniger als zehn Massageprogramme verwöhnen Fahrer und Beifahrer. Dass die Qualität in der S-Klasse ein neues Niveau darstellt, ist eine Selbstverständlichkeit.
Die Digitalisierung
Um das Auto als etwas Besonderes darzustellen, hat Mercedes das aktuell technisch machbare integriert. Allerdings ist nicht alles mit einem direkten Mehrwert verbunden. So ist etwa das 3D-Fahrerdisplay nach kurzer Eingewöhnungszeit nice to have, hat aber ansonsten keine Vorteile. Auch der MBUX-Interieur-Assistent ist eine kleine Spielerei. Mittels einer Kamera versucht er zu antizipieren, was der Fahrer gerade will. Um einen Aussenspiegel für die Verstellung auszuwählen reicht es folglich, ihn anzuschauen. Die Verstellung selber erfolgt dann aber sehr wohl noch über Knöpfe. Ein weiteres Beispiel ist, dass sich im Dunkeln automatisch die Leselampe anzündet, wenn man das Handschuhfach öffnet.
Nützlicher sind das Augmented Reality HUD sowie das weiterentwickelte MBUX, dessen Sprachsteuerung nun mehrere Sätze am Stück verarbeiten kann. Absolute Spitzenklasse ist das Burmester High-End-Soundsystem mit 31 (!) Lautsprechern, womit man sich problemlos das Trommelfell weg blasen könnte.
Die Lounge auf Rädern
Im Fond der Langversion erwartet einen Lounge-artiger Luxus. Die beiden Einzelsitze verfügen über sämtliche Features der Vordersitze und ermöglichen einen Sitzkomfort, der mit der First Class eines Fliegers vergleichbar ist. Der rechte Rücksitz kann darüber hinaus in eine Liegeposition verstellt werden, sodass einem Nickerchen dank elektrischer Sonnenrollos rundum nichts mehr im Wege steht. Bestens geschützt ist man ebenfalls: Im Fond der S-Klasse Langversion verfügen nämlich die Gurte über einen integrierten Airbag und zusätzlich ist auch als Weltneuheit ein Frontalairbag auf der Rückseite des Vordersitzes integriert.
Ist einem nicht zum schlafen zumute, kann man sich dem Fond-Entertainmentsystem widmen. Dieses verfügt aber erstaunlicherweise nur über ein eingeschränktes Entertainment-Programm. Apps wie YouTube oder Netflix lassen sich nicht direkt darauf installieren, stattdessen muss man ein Smartphone mittels Kabel koppeln, um Video-Inhalte abzuspielen. Warum solch populäre Apps im Mercedes Me Store nicht zum Download angeboten werden, ist mir ein Rätsel.
Der rollende Computer
Bei den ganzen Features geht beinahe unter, dass die S-Klasse eigentlich zum Fahren gemacht ist, technisch sogar zum selber Fahren. Seit Jahren ist vom halbautomatisierten Fahren die Rede, Ende 2021 soll es zumindest in Deutschland endlich los gehen. Mit dem Autobahn-Pilot, der im Testwagen nicht verbaut ist, kann die S-Klasse auf Autobahnen im stockenden Verkehr bis zu 60 km/h selber automatisch fahren, eine Überwachung oder ein Halten des Lenkrads seitens Fahrer ist nicht mehr nötig.
Die rollende Burg
Mit dem Testwagen wird natürlich noch selber gefahren, wobei die S-Klasse selbst dann versucht, möglichst den ganzen Prozess vom Fahren abzuschirmen. Das adaptive Luftfahwerk glättet so ziemlich alle Unebenheiten, sodass das Gefühl aufkommt, man würde über der Strasse schweben. Dazu kommt die unerreichte Ruhe im Auto. Selbst bei Tempo 130 auf der Autobahn hört man fast nichts von aussen und man könnte sich im Flüsterton mit den hinteren Insassen unterhalten.
Obwohl der S500 (noch) nicht automatisch fahren darf, so wird deutlich, dass er es locker könnte. Der weiterentwicklete Drive Pilot benötigt nämlich keine Lenkbewegungen mehr, es reicht, wenn man auch nur eine Hand locker am Lenkrad hält und die S-Klasse reisst Kilometer für Kilometer auf der Autobahn runter. Auch der Spurwechsel erfolgt mittels Antippen des Blinkers auf äusserst geschmeidige Art und Weise und orange Baustellenlinien erkennt das Auto ebenfalls und richtet sich an denen aus.
Überhaupt kann die S-Klasse alles etwas besser: Noch einscherende Fahrzeuge werden bereits erkannt und nachts bietet das Digital Light eine noch nie dagewesene Präzision des Matrix-Lichts. Zudem ist der Einparkassistent in der Lage, das Auto vollautomatisch in engste Parklücken zu quetschen. Was ich in der S-Klasse jedoch vermisste, war ein Tot-Winkel-Kamerasystem oder zumindest eines, welches beim Blinken das Kamerabild einblendet.
Die Hände am Steuer
Zum Schluss noch der wohl unwichtigste Part bei diesem Hightech-Auto: Das selber fahren an sich. Im Comfort-Modus ist man logischerweise so gut wie nur möglich vom Fahrgeschehen abgekapselt. Gangwechsel werden nicht mitbekommen und auch das Mildhybrid-System mit boosten, rekuperieren und segeln versieht seinen Dienst absolut unauffällig. Dank der Allradlenkung fühlt sich das riesige Auto um einiges kleiner an und das bereits mit der “konventionellen” Allradlenkung, die 4,5 Grad Lenkwinkel hinten bietet. Die ist bei 21-Zöllern an Bord.
Ich empfehle jedoch 20-Zoll-Felgen, um in den Genuss der weiterentwickelten Allradlenkung zu kommen, die gewaltige 10 Grad Lenkwinkel ermöglicht. Damit sinkt der Wendekreis unterhalb jenem einer A-Klasse, was gleichermassen paradox wie faszinierend ist. Dass damit die Fahrdynamik aufgrund der schmaleren Räder etwas vermindert wird, sollte bei diesem Auto nicht von Relevanz sein.
Ebenfalls erstaunlich ist, wie sich die butterweiche S-Klasse in den Fahrmodi Sport und Sport+ spürbar strafft. Während der Sport-Modus durchaus noch würdevoll ist, ist im Sport+-Modus der Fahrkomfort minimiert. Dafür steigt die Fahrpräzision und im Sport+-Modus ist es tatsächlich möglich, in dieser Burg zu einem Auto noch zu spüren, was die Achsen und der Antrieb so anstellen. Der Reihensechser arbeitet seidenweich und hat genügend Druck, um das 2,3 Tonnen schwere Schiff adäquat und schnell zu beschleunigen.
Dank der gestrafften Aufhängung und der Allradlenkung kann man die Luxuslimousine auf einer nicht zu engen Landstrasse sogar ziemlich fliegen lassen. Mitverantwortlich dafür ist die extrem standfeste Bremse mit tollem Gegendruck, die so 1:1 in einem AMG-Modell arbeiten könnte. Doch am Ende des Tages ist die S-Klasse natürlich auf maximale Sicherheit ausgelegt. In der Praxis heisst das, dass der Allradantrieb sehr neutral arbeitet und das ESP nicht komplett deaktiviert werden kann. Werden die Grenzen des Autos ausgelotet, reagiert dieses harsch, aber nachvollziehbar. Schliesslich steigt man nicht in die Langversion einer S-Klasse, um über Landstrassen zu rösten.
Die Vollendung
Die Details, die ich bei der S-Klasse noch verbessern, resepektive einbauen würde, habe ich geschildert. Ansonsten ist dieses Auto so unglaublich perfekt und behaglich, es ist so viel mehr als nur ein Auto, obwohl es letztendlich ja doch zum Fahren gebaut ist. Die technische Ausstattung und der Fahrkomfort suchen ihresgleichen und trotz des Fokus auf Komfort kann die lange S-Klasse erstaunlich zügig und auch sportlich bewegt werden. Angesichts der geballten Ladung an Superlativen ist selbst der Preis von rund 192’000 Franken meiner Meinung nach nicht so astronomisch hoch. Allerdings frage ich mich, ob Autos wie die neue S-Klasse überhaupt noch zukünftige Klassiker sein können. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die teilwese hochkomplexe Elektronik und Software in über 25 Jahren noch einwandfrei läuft, aber vielleicht täusche ich mich auch…
Alltag
Alltag und S-Klasse Langversion, das klingt erstmal schräg, doch dank der grandiosen Allradlenkung geht das ganz gut. Der Kofferraum fasst für vier Personen ebnfalls genug und mit dem ganzen Luxus an Bord kann keine Reise zu lange sein.
Fahrdynamik
Auch im Sport+ Modus wird die S-Klasse zu keinem Sportwagen, doch für ein 5,30 Meter Schiff wird die Limousine insgesamt verbindlicher. Macht auf gut ausgebauten Strassen mit dem druckvollen Schub durchaus Freude, auf engen Strassen wirkt die S-Klasse etwas verloren.
Umwelt
10,2 Liter Verbrauch sind ein hoher Wert, doch der S500 hat auch ordentlich Leistung und wiegt sehr viel. Ausserdem liegt der reine Autobahn-Verbrauch bei rund 8 Litern.
Ausstrahlung
Die S-Klasse ist eine elegante Luxuslimousine ohne protzig zu wirken. Ihre Linien sind sehr dezent und ich würde sogar sagen, das Design spielt auf Understatement ab.
Fazit
+ Elegantes, zeitgemässes Design
+ Interieur wie aus einem Design Studio
+ Unvergleichliche bequeme Sitze, endlose Verstellmöglichkeiten, tiefe Sitzposition
+ 10 verschiedene Massageprogramme, auch im Fond
+ Ambientebeleuchtung mit sehr viel Liebe zum Detail
+ Unzägliche Technologie Features (AR-HUD, 3D-Display, Interieur-Assistent, Digital Light)
+ Sehr schnelles MBUX-System mit zahlreichen Online-Diensten und erstklassiger Sprachsteuerung
+ Famoses Soundsystem
+ Fond mit Liegemöglichkeit
+ Sehr laufruhiger, aber druckvoller Motor
+ Spontanes, aber völlig unauffälliges Getriebe
+ Extrem niedriges Geräuschniveau im Interieur
+ Formidabler Fahrkomfort
+ Grosse Spreizung der Fahrmodi
+ Weiterentwickelte Allradlenkung mit grossem Lenkwinkel
+ Absolut perfekt funktionierende Assistenzsysteme
+ Grosser Individualisierungs-Spielraum
– Hohes Gewicht
– Viele teure Optionen
– Türgriffe reagieren leicht verzögert
– Keine Video-Apps im Fond-Entertainmentsystem
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Mercedes S-Klasse Langversion |
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Preis Basismodell / Testwagen | 152 500 CHF / 192 797 CHF |
Antrieb | Benzin Mild-Hybrid / Allradantrieb |
Hubraum / Zylinder | 2999 ccm / R6 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Frontmotor / Turbomotor + E-Lader |
Getriebe | 9-Gang Automatikgetriebe |
Max. Leistung | 336 kW bei 6100 r/min |
Max. Drehmoment | 520 Nm bei 1800 - 5800 r/min |
Beschleunigung 0 - 100 km/h | 4,9 s |
Vmax | 250 km/h (elektronisch abgeregelt) |
WLTP-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 10,1 l/100 km / 230 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 10,2 l/100 km / 233 g/km / +1% |
Länge / Breite / Höhe | 5,29 m / 1,92 m / 1,50 m |
Leergewicht | 2336 kg |
Kofferraumvolumen | 550 l |
Bilder: Koray Adigüzel
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