Polestar 2: Neuer Stern am Elektro-Himmel

Alles scheint neu bei der nun eigenständigen Marke Polestar und doch ist vieles gar nicht so neu. Herausragend sind beim neuen Modell vor allem der ganzheitlich digitale Ansatz sowie die Performance. Wer sich keinen Porsche Taycan leisten kann und die Elektro-SUVs leid ist, findet im Polestar 2 einen echten Underdog. Im Gegensatz zum teuren Porsche ist der Polestar 2 fair eingepreist und im Verhältnis zur Dach-Marke Volvo sogar verhältnismässig günstig. Alles am strahlen also bei der neuen Marke? Fast, denn der Performance-Stromer wirft ein Problem auf, wofür er nur indirekt etwas kann. Aber der Reihe nach!

Die nahe Verwandtschaft zu Volvo ist vor allem an den Scheinwerfern und deren Lichtsignatur erkennbar. Ansonsten ist der Polestar sehr eigenständig gezeichnet. Er folgt grundsätzlich dem Stil einer Fliessheck-Limousine, bietet aber gleichzeitig leicht erhöhte Bodenfreiheit und markante Kotflügel. Weitere Designmerkmale sind das durchgehende und geschwungene Rücklicht, die rahmenlosen Aussenspiegel sowie beim Performance-Modell die goldenen Bremssättel. Ein gelungenes Design, welches aber noch nicht erahnen lässt, zu was der Polestar 2 fähig ist.

Polestar 2 Performance
Der Polestar 2 trägt aus Liebe zum Design einen Kühlergrill. Die Lichtsignatur schafft optische Nähe zu Volvo.

Veganes Interieur

Beim Einsteigen fallen die goldenen Sicherheitsgurte auf, ebenfalls Bestandteil des Performance-Pakets. Standardmässig ist der Polestar mit veganen Sitzpolstern ausgestattet, dessen Material am ehesten an Neopren erinnert. Auch Lenkrad und Dachhimmel sind vegan und während sich Sitze und Lenkrad sehr gut anfühlen, fühlt sich der Dachhimmel wie Karton an. Wer lieber auf bewährtes setzt, kann sich gegen Aufpreis ein Nappaleder-Interieur ordern.

Polestar 2 Performance
Die veganen Sitze sehen gut aus, die Sitzposition ist sportlich tief.

Gut integriert

Trotz der erhöhten Bodenfreiheit sitzt man sportlich tief und gut integriert ins Auto. Die geschwungene und breite Mittelkonsole sieht zwar schick aus, nimmt dem Cockpit allerdings eine gewisse Luftigkeit weg. Die digitale Integration übernimmt das neue Infotainmentsystem auf Android-Basis und permanenter Online-Verbindung. Die Bedienung ist ein Klacks, Google Maps eine unschlagbare Macht und die Sprachsteuerung Weltklasse. Einzig Klima und Heizung wären insbesondere während der Fahrt angenehmer und sicherer über konventionelle Knöpfe zu bedienen.

Polestar 2 Performance
«Hey, Google!» Das Infotainmentsystem läuft auf Android, entsprechend hört der Google Assistant auf das Kommando des Fahrers.

Fahrmodi? Braucht’s hier nicht

Die Schweden schwören auf ein reduziertes Design und übertragen das auch aufs Fahrfeeling. Gestartet wird der Wagen, indem die Bremse betätigt und die Fahrtrichtung eingegeben wird. Startknopf? Pff, sowas von gestern! Geschmeidig rollt der Polestar los, das digitale Cockpit vermittelt sachdienlich relevante Hinweise in dezenten Farben. Ich gebe vorsichtig mehr Gas, doch viel passiert nicht. Es scheint, als wäre ein Eco-Modus aktiv, aber den gibt es nicht, genauso wenig wie andere Fahrmodi!

Polestar 2 Performance
Hübsches Detail: Die Projektion des Polestar-Logos ins Dachfenster. Eine Analogie zum Polarstern.

Bereits beim alltäglichen Dahingleiten tritt das sportlich orientierte Setup des Performance-Pakets deutlich zu Tage. Die Lenkung sendet schönes Feedback von der Vorderachse, die Bremse bietet ordentlichen Gegendruck und die Öhlins-Dämpfer federn trocken-straff. Ihr Härtegrad kann in der Werkstatt feinjustiert werden. Die Werkseinstellung ist definitiv auf der sportlichen Seite mit ein paar Einbussen beim Fahrkomfort, aber dafür bezahlt man schliesslich auch den Aufpreis von 6000 Franken.

Polestar 2 Performance
Die Performance-Modelle erkennt man an den goldenen Bremssätteln.

Über den Touchscreen können die Härte der Lenkung sowie die Rekuperation in drei Stufen gespeichert werden, zudem kann das ESP in den Sport-Modus versetzt werden – mehr kann man fahrerisch beim Polestar 2 nicht rumfuhrwerken. Wünschenswert wären eine automatische Rekuperation via Frontradar und / oder Schaltpaddels sowie stärkerer Seitenhalt. Letzterem Wunsch sowie dem vermeintlichen Eco-Modus gehe ich jetzt auf den Grund.

Polestar 2 Performance
Geschwungene Mittelkonsole mit einem Designer-Gangwahlhebel.

Du dirigierst, Polestar setzt um

Die feine, langsame Gasannahme wendet der Polestar 2 bei sachtem, progressivem Beschleunigen an. Wird das Gaspedal schnell betätigt – das muss kein vollständiger Kickdown sein – dann kommt die andere Seite zum Vorschein! Absolut ansatzlos wie ein riesiger Sauger auf Touren schiebt der Polestar an, der Kickdown-Schub ist heftig und kann auf Dauer zu kurzfristigen Nackenverspannungen führen – kein Witz!

Polestar 2 Performance
Ein weiteres schmuckes Designmerkmal: Die rahmenlosen Seitenspiegel.

Soweit so gut, aber das ist im Elektro-Kosmos bei entsprechender Power nichts Neues. Doch im Gegensatz zu all den lediglich längsdynamisch potenten E-SUVs kann man mit dem Polestar 2 echt sportlich einen Berg hoch sprinten. Auch beim harten Anbremsen bleibt der Wagen schön stabil und lenkt trotz immensem Gewicht willig ein. Und dann: Ab der Kurvenmitte voll aufs Gas und der Polestar schiebt sich völlig frei von Untersteuern aus der Kurve raus, ohne Traktionsprobleme oder sonstige Mätzchen!

Polestar 2 Performance
Mit seinen Crossover-Anleihen macht der Polestar 2 nicht auf Sportwagen. Er ist es aber!

Das Ganze funktioniert nicht nur ein paar wenige Male. Man kann das Auto richtig hart rannehmen, aber Beschleunigungs- und Bremsleistung bleiben schön konstant. Das extrem neutrale Handling ist bemerkenswert, allerdings muss sich dafür das ESP im Sport-Modus befinden, ansonsten macht der Sicherheitsgedanke der Schweden dem Fahrspass einen Strich durch die Rechnung. Ein Tüpfchen auf dem i wäre jetzt noch ein möglicher Powerslide, aber den Polestar 2 kriegt man nicht quer.

Polestar 2 Performance
Reduziertes Digital-Cockpit.

Fahrdynamische Benchmark

Es ist kein Geheimnis, dass der Polestar 2 direkt auf das Tesla Model 3 abzielt. Das Model 3 verfügt zwar als Performance über noch mehr Power als der Schwede, aber beim Handling zieht Tesla klar den Kürzeren. Vor allem gegen die kräftige und extrem belastbare Brembo-Bremse vom Polestar hat Tesla keine Chance. Von der Verarbeitungsqualität will ich gar nicht erst anfangen.

Polestar 2 Performance
Auch im Fond sitzt man gemütlich.

Dennoch liegt der Polestar nicht überall vorne. Tesla’s an die Navigation gekoppelte Autopilot mit halbautomatischen Spurwechseln wirkt visionärer als der klassische Autobahnassistent im Polestar. Auch beim automatischen Parkieren guckt der Polestar in die Röhre. Eine Nachhilfe-Stunde punkto Energieeffizienz bei Tesla wäre ebenfalls nicht schlecht, denn selbst beim gemütlichen Fahren verbraucht der Polestar 2 rund 25 kWh/100 km, was eher viel ist.

Polestar 2 Performance
Die maximale Ladeleistung beträgt 150 kW.

Die Krux der E-Sportler

Stichwort Energie. Dass ich den Polestar 2 zwischenzeitlich auf einen Verbrauch von über 40 kWh/100 km getrieben habe, zeigt nochmal, welches wahnsinnige Performance-Potenzial dieses Auto zu entfesseln vermag. Doch die Kehrseite ist die Reichweite. Als Enthusiast würde ich mir einen Polestar 2 mit Performance-Paket nicht nur kaufen, um rumzugurken, sondern um das Auto auch so zu fahren, wozu es gebaut wurde. Das hat aber zur Folge, dass bei einem durchschnittlichen Testverbrauch von 28,3 kWh/100 km die durchschnittliche Reichweite auf 265 km absinkt – das ist nur noch knapp mehr als die Hälfte der 470 WLTP-Kilometer.

Polestar 2 Performance
Dank Fliessheck-Design verfügt der Polestar 2 über eine grosse Kofferraum-Öffnung.

Doch damit steht der Polestar bei weitem nicht alleine dar. Nach wie vor reagieren Elektroautos verbrauchstechnisch auf eine sportliche Fahrweise viel empfindlicher als Verbrenner. Wer gerne sportlich fährt, sollte im Hinterkopf behalten, dass man von der Norm-Reichweite gut und gerne 200 Kilometer abziehen kann.

Polestar 2 Performance
Das stylische Cockpit wirkt dank der markanten Mittelkonsole trotz Verzicht auf Knöpfen nicht zu leer.

Nur online erhältlich

Einen Polestar 2 kann man sich direkt im Anschluss an dieses Review kaufen. Wer ihn erst noch selber erfahren möchte, kann das über sogenannte Polestar Spaces tun, aber konfiguriert und bestellt wird ausschliesslich online – und zwar zu einem überraschend günstigen Preis. Selbst die getestete Performance-Variante kostet mit 64’900 Franken weniger als der deutlich unsportlichere Volvo XC40 Recharge, der für mindestens 876 Franken / Monat geleast werden muss und die identische Antriebs- und Akkutechnik nutzt.

Polestar 2 Performance
Die Antriebstechnik ist unabhängig vom optionalen Performance-Paket.

Es ist eben doch nicht alles komplett neu bei Polestar, denn im Service-Fall wird ebenfalls auf das gut ausgebaute Volvo Händlernetz zurückgegriffen. Aber man muss das Rad nicht neu erfinden. Der Polestar 2 ist hochwertig, zum Teil vegan, voll vernetzt und mit einer Performance gerüstet, die so manche Beifahrer-Mägen zum rebellieren bringt. Einstandstest mit Bravour bestanden!

Polestar 2 Performance
Ein grosser Vorteil ist die bestehende Infrastruktur von Volvo. Der Online-Fokus sorgt für konkurrenzfähigere Preise.

(Wer spontan von Nostalgie befallen worden ist, hier geht es zum V60 Polestar mit Sechszylinder und hier zum Vierzylinder)

Alltag 4.5 out of 5 stars

Vier Personen reisen im Polestar 2 bequem mit, allerdings fehlt ein “Out-of-the-Box-Thinking”-Ansatz. Der Polestar 2 bietet eine ähnliche Raumausnutzung wie ein Verbrenner. Der Kofferraum ist dank des Fliesshecks aber einfach zu beladen und sogar eine Anhängerkupplung (max. Anhängelast 1500 kg) ist erhältlich.

Fahrdynamik 5 out of 5 stars

Die Paradedisziplin des Schweden. Bei schneller Betätigung des Gaspedals schiesst der Wagen mit brachialer Vehemenz nach vorne. Trotz über 2,2 Tonnen Leergewicht verhält sich der Allradler extrem neutral und lässt sich auch in höchst ambitioniert gefahrenen Kurven nicht aus der Ruhe bringen. Im Extremfall im ESP-Sportmodus schiebt der Polestar 2 über alle vier Räder, das Heck bleibt stets ruhig.

Umwelt 4 out of 5 stars

Klar, Strom ist relativ sauber und lokal emissionsfrei, doch sparsam ist der Wagen nicht. Selbst bei gemässigter Fahrweise verbraucht der Polestar 2 rund 25 kWh/100 km, was massiv über dem Normverbrauch von 19,7 kWh/100 km liegt. Im sportlich gefahrenen Test waren es am Ende sogar 28,3 kWh/100 km.

Ausstrahlung 4 out of 5 stars

Ohne das Rad neu zu erfinden, fällt der Polestar 2 durch sein markantes und doch typisch schwedisches, reduziertes Design auf.

Fazit 5 out of 5 stars

+ Eigenständiges, sportlich-markantes Design
+ Haptik und Verarbeitung auf sehr hohem Niveau (Ausnahme: Dachhimmel)
+ Tiefe Sitzposition, perfekte Ergonomie
+ Veganes Interieur serienmässig ohne Aufpreis
+ Sensationelles Infotainmentsystem auf Android-Basis mit Google Maps und exzellenter Sprachsteuerung
+ Nahezu vollständige Ausstattung inklusive
+ Sehr grosses und zuverlässiges Assistenz-Paket
+ Sportlich-straffes Fahrwerk mit Performance-Paket
+ Bissige Bremsen, sehr gutes Bremsgefühl mit ordentlichem Gegendruck
+ Nahezu unbeirrbares, neutrales Fahrverhalten
+ Perfekte Gewichtsverteilung
+ Fairer Preis

– Erhöhter Verbrauch
– Klimasystem ohne energiesparende Wärmepumpe
– Billiger Dachhimmel beim veganen Interieur

Mängel am Testwagen

– Keine Mängel

Steckbrief

Marke / ModellPolestar 2
Preis Basismodell / Testwagen57 900 CHF / 64 900 CHF
AntriebElektrisch, Allradantrieb
Akkukapazität78 kWh
Max. Leistung300 kW
Max. Drehmoment660 Nm
Beschleu­nigung 0–100 km/h4,7 s
Vmax205 km/h (elektronisch abgeregelt)
WLTP-Verbrauch / Energieeffizienz19,3 kWh/100 km / A
Test-Verbrauch / Differenz28,3 kWh/100 km / +47%
WLTP-Reichweite470 km
Ø Test-Reichweite265 km
Länge / Breite / Höhe4,61 m / 1,86 m / 1,47 m
Leergewicht2223 kg
Kofferraumvolumen405 - 1095 l + 35 l Frunk

Bilder: Koray Adigüzel

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