Wir alle erinnern uns an chinesische Automobile vor rund 20 Jahren zurück. Dreiste, wüste Designkopien europäischer Hersteller, die bei Crashtests wie eine Handorgel zusammengefaltet wurden. Doch die Chinesen waren nicht untätig, insbesondere das Aufkommen der Elektromobilität verhalf chinesischen Herstellern, welchen die Expertise beim Verbrennermotor fehlt, zu Rückenwind. Der Voyah Free steht stellvertretend für die Fähigkeiten und die Qualität. Voyah ist die selbst ernannte Premiummarke des chinesischen Herstellers Dongfeng Motor Corporation. In Europa weitgehend unbekannt, im Heimatmarkt China jedoch bereits seit 1969 aktiv. Noch stolpert man im Voyah zwar über das eine oder andere Software-Problem, aber das sind Details.
Zugegeben, puncto eigenständigem Design ist der Free nicht das beste Beispiel, denn wer den italienischen Dreizack kennt, denkt beim Anblick des Chinesen unweigerlich an Maserati. Der Kühlergrill – der bei genauerer Betrachtung gar kein solcher ist, sondern lediglich ein geschlossenes Designelement – ist schon arg nah dran am italienischen Original; aber hey, auch Ford hat in der Vergangenheit ganz unverdrossen den Aston Martin Kühlergrill in den Fiesta verbaut. Abgesehen davon ist der Free ein stattliches und elegantes SUV, welches die eigene Designsprache spricht. Das Design wirkt ruhig, die lange Motorhaube verleiht dem Auto zusätzliche Präsenz. Ein nettes Detail ist die optisch zweigeteilte D-Säule, welche den Markennamen stolz nach aussen trägt.
Cockpit, erhebe dich
Trotz der langen Motorhaube und der dadurch nach hinten versetzten Passagierkabine bietet der Free fürstliche Platzverhältnisse. Auf allen Plätzen sitzt es sich luftig und gemütlich, ausserdem bieten die Chinesen nachhaltige und gleichzeitig sehr hochwertige Textilien für die Sitze an. Damit nicht genug: Vorne erhöhen Massage, Heizung, Lüftung sowie Memoryfunktion den Komfort, hinten muss dagegen auf eine Sitzheizung verzichtet werden. Der Seitenhalt der vorderen Sitze dürfte ausgeprägter sein, aber das ist ebenfalls jammern auf hohem Niveau. Apropos Niveau. Dank serienmässiger Luftfederung kann sich das Auto für den bequemen Ein- und Ausstieg absenken, die Hinterachse kann für einfacheres Beladen auf Knopfdruck sogar noch zusätzlich abgesenkt werden.
Wird das Auto gestartet, fährt die gesamte Instrumententafel lautlos nach oben und gibt den Blick auf drei grosse Bildschirme frei. Eine nette Spielerei, die für einen kleinen Wow-Effekt sorgt. Das Fahrer-Cockpit ist teilweise anpassbar und ändert je nach Fahrmodus dezent das Farbthema. Der Bildschirm für den Beifahrer ist wie bei allen Autos, die das bieten, hauptsächlich ein Gadget ohne nennenswerten Mehrwert. Der Beifahrer kann etwa seinen eigenen Sitz steuern oder sich Filme auf Dailymotion streamen, dazu ist aber ein entsprechendes Konto notwendig. Der Beifahrerscreen ist vom Fahrersitz aus komplett einsehbar, was für eine Ablenkung sorgen kann.
Wer Mängel sucht, findet sie
Das eigentliche Infotainmentsystem ist vorerst nur auf Englisch (und natürlich Chinesisch) verfügbar, eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit. Auch die Sprachsteuerung ist vorerst noch deaktiviert, wird aber zu einem späteren Zeitpunkt freigeschaltet. Die Bedienung ist einfach, ausserdem läuft das System flüssig. Eine Navigation (diese ist auf Deutsch) findet dank Online-Anbindung fast alle Ziele und erfüllt ebenfalls alle Ansprüche. Ein paar Software-Bugs stecken jedoch noch im System. So bleibt etwa die Beduftung der Klimaanlage nicht eingeschaltet. Wird der maximale Ladestand auf weniger als 100 % eingestellt, so ist diese Einstellung nach dem Laden wieder zurück auf 100 % gesetzt. Kleinigkeiten, die per OTA-Update behoben werden können. Ich erwähne das vollständigkeitshalber, aber das soll kein gefundenes Fressen für Kritiker sein – man denke nur an die vergangenen Software-Eskapaden gewisser deutscher Hersteller mit Ladezeiten jenseits der 20 Sekunden und Abstürzen. Da ist der Free deutlich besser aufgestellt.
Auch qualitativ gibt es grösstenteils Positives zu vermelden. Die Chinesen verwenden sehr wertige Materialien, welche sowohl der Hand, als auch dem Auge schmeicheln. Dies setzt der Hersteller ausserdem konsequent durch, auch im Fond beispielsweise werden keine minderwertigeren Zierelemente oder dergleichen eingesetzt. Die Verarbeitungsqualität kann sich ebenfalls sehen lassen, im Test gab es kein einziges Störgeräusch zu vernehmen. Die Qualität insgesamt ist somit wirklich gut, aber nicht überragend. Ich sage es mal so: Eine Qualitätskontrolle von Lexus oder Genesis würde Voyah nicht bestehen. Das spürt man aber nur, wenn man extrem hohe Ansprüche hat oder so ein pedantischer Tester wie ich ist.
Komfort ist Trumpf
Gestartet wird der Free ganz konventionell mittels Startknopf und Gangwahlhebel in der Mittelkonsole. Der erste Fahreindruck im Fahrmodus Comfort ist im positiven Sinne unauffällig. Das SUV fährt leise, geschmeidig und federt ausgesprochen schön. Die hohe Leistung von 360 kW fordert den Fahrer überhaupt nicht heraus, es fordert viel Druck aufs Gaspedal, damit es ordentlich vorwärtsgeht. Die Widerstandskraft der Lenkung ist in drei Stufen (light, medium, strong) justierbar, wobei meines Erachtens lediglich die Stufe «strong» über ein einigermassen angemessenes Feedback verfügt. Um dies einzustellen, bedarf es den Modus Individual, welcher netterweise nach jedem Motorstart aktiv bleibt. Das Gefühl eines gemütlichen Gleiters ist im Free definitiv Premium.
Zwiespältige Assistenzsysteme
Getrübt wird die Gemütlichkeit und die Ruhe an Bord aufgrund der sehr kommunikativen Assistenzsysteme. Das Übelste: Ist im Navigationssystem die gesprochene Routenführung hinterlegt, erfolgt jedes Mal (auch ohne aktive Routenführung) der GESRPOCHENE Kommentar «the current speed limit is xy km/h», sobald das Tempolimit auch nur um ein km/h überschritten wird. Abstellen lässt sich das nicht, ein Workaround ist, die gesprochene Routenführung auszuschalten, dann herrscht Ruhe. Phu, das müsste echt nicht sein.
Ebenfalls Nervpotenzial hat die Fahrerüberwachung mittels Kamera. Einmal zulange auf ein Display geschaut oder einmal gegähnt und schon wird man gerügt. Eine etwas weniger sensible Einstellung wäre wünschenswert. Kritik auf sehr hohem Niveau betrifft den Abstandstempomat, der gibt nämlich jedes Mal ein Geräusch von sich, wenn er aktiviert oder deaktiviert wird. Nicht gross störend, aber trotzdem frage ich mich, wieso? Ich habe halt gerne meine Ruhe an Bord.
Einer der allergrössten Kritikpunkte betrifft die Scheinwerfer, konkret das Fernlicht. Selbiges muss nämlich wie vor zehn Jahren jedes Mal manuell ein- und ausgeschaltet werden, eine Fernlichtautomatik ist nicht an Bord. Zu allem Übel kommt noch dazu, dass die Ausleuchtung des Fernlichts trotz Voll-LED-Scheinwerfer dürftig ist. Es ist mit aktivem Fernlicht klar ersichtlich, bis wohin das Abblendlicht reicht, da das Fernlicht deutlich schwächer strahlt als das Abblendlicht. Das ist umso mehr enttäuschend, weil das Licht optisch mit durchgehendem Leuchtband vorne und hinten, Lauflichtblinker vorne und hinten sowie beleuchtetem Logo vorne (!) einen sensationellen Eindruck macht.
Nach dieser Kritikrunde muss aber auch wieder Lob ausgesprochen werden. Auf der Autobahn ist auf Wunsch per Knopfdruck semi-autonomes Fahren möglich, sogar Spurwechsel werde automatisch nach Betätigen des Blinkers vorgenommen. Das System wirkt dabei sehr ausgereift und vertrauenerweckend. Mit Befriedigung nehme ich ausserdem zur Kenntnis, dass der Spurhalteassistent, einmal deaktiviert, permanent deaktiviert bleibt. Wie angenehm. Ebenfalls makellos sind die gestochen scharfe 360°-Kamera sowie der Parkassistent, der das Manöver vorhersehbar und einwandfrei durchführt. Überdies hat der Voyah noch zwei Gimmicks im Gepäck. Das eine ist eine Kamera, welche gedacht ist, die Kinder auf der Rückbank zu filmen und das Bild auf dem zentralen Screen anzuzeigen. So hat man sie während der Fahrt immer im Blick – zumindest aus dem Augenwinkel. Ebenfalls am Bord ist eine ausgewachsene Dashcam. Die Aufnahme muss manuell gestartet werden und damit sie im Ernstfall auch Gewicht hat, sind Uhrzeit, Datum, Tempo, Blinker und Abblendlichtstatus auf der Aufnahme hinterlegt.
Sport muss nicht sein
Nicht empfehlenswert ist die Nutzung der Dashcam im Performance-Modus, welcher das Armaturenbrett wieder absenkt und die Darstellung auf den Screens minimiert – für eine bessere Übersicht nach vorne und weniger Ablenkung. Das Ansprechverhalten ist jetzt messerscharf, jedes Antippen des Pedals wird in Vortrieb umgewandelt und beim Kickdown ist der Schub gewaltig. Das Tempolimit ist in Nullkomma nichts überschritten und ich muss sagen, dieser brachiale Antritt macht Spass.
Doch während der Schub eines Sportwagens würdig ist, so bleibt das Handling selbst im Performance-Modus mit strafferer Kennlinie des Luftfahrwerks viel zu weich. Das Auto wankt und neigt sich in Kurven, was nicht dazu einlädt, Kurven möglichst schnell zu durcheilen. Somit beschränkt sich der Fahrspass auf den Schub und die hecklastige Kraftverteilung, aber das ist absolut okay, denn Voyah preist den Free in keiner Weise als ein Sport-SUV an.
Trotz regelmässiger Nutzung des Leistungspotenzials ist der Verbrauch im Test nicht explodiert. 26,7 kWh/100 km sind für die Leistung gerade noch im grünen Bereich, ausserdem besteht bei leichterem Gasfuss Potenzial nach unten. Voyah verspricht eine Reichweite von 500 Kilometer, im Test waren 350 Kilometer die Realität – auch hier, bei leichterem Gasfuss ist mehr drin. Mehr drin sein sollte jedoch bei der Ladeleistung. Das Auto lädt an DC-Schnellladern lediglich mit 100 kW, was nicht State-of-the-Art ist, vor allem nicht, wenn man einen Premium-Anspruch hegt.
Spielerisch einfache Konfiguration
Beim Bestellvorgang orientiert man sich ganz klar an Tesla. Das Auto gibt es nur in einer Variante, nämlich mit Komplettausstattung wie hier gezeigt für 69’990 Franken. Selbst alle Lackierungen und drei verschiedene Interieur-Trims haben keinen Einfluss auf den Preis, lediglich ein Black-Paket, welche eine schwarze Lackierung, schwarze Karosserie-Akzente und einen schwarzen Innenraum umfasst, kostet extra. Überdies sind einzelne Zubehör-Artikel wie eine Anhängerkupplung, Skidurchlade oder Gummimatte für den Kofferraum gegen Aufpreis verfügbar.
Importeur Noyo gewährt auf das Auto fünf Jahre Garantie (100’000 km) oder acht Jahre auf die Batterie und den Antriebsstrang (160’000 km). Das Händlernetz umfasst derzeit neun Standorte in der Schweiz, weitere werden in Kürze dazu kommen. Ein optionaler, kostenpflichtiger Hol- und Bring-Service sowie fünf Jahre Pannenhilfe runden das Dienstleistungsangebot ab.
Ich habe während des Tests mehr als einmal gehört, dass das Auto «für einen Chinesen ziemlich teuer sei». Ich halte es für falsch, ein Auto so zu bewerten. Deutsche dürfen teuer sein, aber Chinesen nicht? Was ist das für eine Haltung? Ausserdem ist der Preis sehr kompetitiv und überhaupt nicht überteuert. Voyah haltet sein Versprechen von Luxus und Komfort weitgehend ein. Der Voyah Free ist eine würdige Alternative für manch deutlich teureres Elektro-SUV und wir befinden uns erst ganz am Anfang. Verbesserte Software und wahrscheinlich auch weitere Modelle werden folgen. Europäische Hersteller sollten sich angesichts dieser Entwicklung besser warm anziehen.
Alltag
Mit seinen üppigen Platzverhältnissen, der ordentlichen Reichweite sowie einer Anhängelast von bis zu 2000 kg ist der Free ein äussert vielseitiges Elektro-SUV. Einzig die Ladeleistung von 100 kW sorgt möglicherweise für etwas längere Zwischenstopps als nötig.
Fahrdynamik
Im Performance-Modus ist der Antritt blitzartig und sehr kräftig. Leistung ist im Überfluss vorhanden, doch das Handling ist nicht wirklich sportlich.
Umwelt
Der Testverbrauch von 26,7 kWh/100 km hängt auch mit meinem Fahrstil zusammen. Bei gemütlichen Fahrten pendelt sich der Verbrauch bei rund 22 kWh/100 km ein, was für die Leistung und die Grösse ein guter Wert ist.
Ausstrahlung
Der Voyah Free gefällt mit klassischen und eleganten Proportionen. Das eigenständige Design trifft den europäischen Geschmack und wirkt trotz Premium-Anspruch überhaupt nicht protzig. Ein Eyecatcher ist das beleuchtete Logo nachts.
Fazit
+ Weitgehend eigenständiges und elegantes Design
+ Üppige Platzverhältnisse
+ Bequeme Sitze mit Heizung, Lüftung und Massage, top Ergonomie
+ Gute Verarbeitungsqualität, wertige Materialien
+ Hohe Anhängelast für ein Elektroauto
+ Schnell reagierendes Infotainmentsystem mit intuitiver Bedienung
+ Exzellenter Fahrkomfort
+ Diverse Fahrmodi mit deutlicher Spreizung
+ Kräftiger Antritt, ansprechende Fahrleistungen
+ Leicht hecklastiges Fahrverhalten, ESP-Sport-Modus verfügbar, der dem Heck etwas Spielraum einräumt
+ Semi-autonomes Fahren funktioniert einwandfrei
+ Akzeptabler Stromverbrauch
+ Fairer Preis, üppige Ausstattung
+ Umfangreiche Garantie- und Serviceleistungen
– Teilweise übersensible oder nervige Assistenzsysteme
– Kein One-Pedal-Driving möglich
– Keine automatische Rekuperation, keine Paddels für Einstellung der Rekuperation
– DC-Ladeleistung gering
– Schwaches Fernlicht, keine Fernlichtautomatik verbaut
Mängel am Testwagen
– Paar kleine Software-Bugs, welche jedoch den Komfort oder die Sicherheit nicht beeinträchtigen
Steckbrief
Marke / Modell | Voyah Free |
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Preis Basismodell / Testwagen | 69 990 CHF / 69 990 CHF |
Antrieb | Elektrisch, Allradantrieb |
Akkukapazität | k.A. kWh (brutto) / 106,7 kWh (netto) |
Max. Leistung | 360 kW |
Max. Drehmoment | 720 Nm |
Beschleunigung 0–100 km/h | 4,4 s |
Vmax | 200 km/h (elektronisch abgeregelt) |
WLTP-Verbrauch / Energieeffizienz | 20,2 kWh/100 km / B |
Test-Verbrauch / Differenz | 26,7 kWh/100 km / + 32% |
WLTP-Reichweite | 500 km |
Ø Test-Reichweite | 350 km |
Max. Ladeleistung (DC) | 100 kW |
Länge / Breite / Höhe | 4,91 m / 1,95 m / 1,65 m |
Leergewicht | 2415 kg |
Kofferraumvolumen | 560 - 1320 l + 72 l Frunk |