Cadillac ist in Europa ein spezieller Fall. Speziell deshalb, weil der Name allen ein Begriff ist. Aufgrund der Filmindustrie sowie des unsterblichen Rufs des luxuriösen Strassenkreuzers von anno dazumal ist die Marke eigentlich bekannt. Aber wenn es ans Eingemachte geht, haben sie hierzulande entweder alle nicht auf dem Schirm oder irgendwelche bösen Vorurteile haften am Namen. Anyway, obwohl Cadillac sowohl in der Schweiz als auch in ganz Europa nie über den Status als Exot herausgekommen ist, plant GM nun im Zeichen der Elektromobilität einen Neuanfang. Cadillac wird in Europa ausschliesslich Elektrofahrzeuge anbieten, während im Heimatmarkt Verbrenner nach wie vor angeboten werden. Den Start markiert hierzulande der Lyriq, ein auffällig designtes SUV-Coupé. Welche Werte vermittelt Cadillac als Elektroauto? Und hat der Ami das Zeug, um sich gegen die riesige Konkurrenz zu behaupten?
An einem auffälligen Design hat es Cadillac noch nie gemangelt und da macht der Lyriq keine Ausnahme. Typisch Cadillac sind die vertikalen, sehr schlanken Scheinwerfer mit ebenfalls vertikalem Tagfahrlicht. Ein optischer «Kühlergrill» in Schwarz schafft optische Präsenz und gibt dem Auto vorne einen hohen Wiedererkennungswert. Ein sportlicher und gefälliger Look an der Front. Hinten wird es dann schon eigenwilliger, mit markanter C-Säule und sehr flacher Heckscheibe. Kurios ist ausserdem, dass die oberen Lichter lediglich den Blinker beinhalten (so ziemlich den grössten, den es geben dürfte), und die eigentlichen Rücklichter dezent am unteren Ende der Stossstange integriert sind – natürlich vertikal. Sieht speziell und fancy aus und zieht auf jeden Fall die Blicke an.

Wohnliches Ambiente
Man erwartet von einem Cadillac ein einladendes und auch üppiges Ambiente und der Lyriq enttäuscht diesbezüglich nicht. Man nimmt auf weichen, ausladend dimensionierten, aber haltarmen Sitzen auf Nappaleder Platz und blickt auf eine gestochen scharfe, geschwungene Displaylandschaft. Was nach Alu aussieht, ist zwar kein Alu und beim Holz weiss ich nicht so recht, aber das ist nicht so wichtig, denn es fühlt sich dennoch alles hochwertig an und mit der Verwendung von Leder geizen die Amerikaner auch nicht. Zudem erinnern die kleinen Rädchen für die Lüftungsdüsen sowie der Getriebewählhebel an vergangene Zeiten. Insgesamt können sich Ambiente und Qualität wahrlich sehen lassen, gerade in Zeiten, in denen bei den Deutschen Premiummarken gerne gespart wird, macht Cadillac diesbezüglich (fast) alles richtig. Ich komme gleich darauf zurück.

Ein Punkt, bei dem ein Cadillac ebenfalls nicht enttäuschen darf, ist der Platz. Und auch in dieser Disziplin heimst der Lyriq ordentlich Punkte ein. Das Raumgefühl ist insgesamt sehr luftig und man geniesst auf allen Plätzen ein hervorragendes Platzangebot. USB-Anschlüsse sind zahlreich vorhanden und an Ablagemöglichkeiten mangelt es im Auto ebenfalls nicht. Der Kofferraum ist nicht riesig, aber für die meisten Zwecke sicher gross genug. Typisch SUV-Coupé ist die Dachlinie der eigentliche Knackpunkt und nicht das eigentliche Kofferraumvolumen.

Die Amis beweisen überdies, dass sie auch bezüglich Digitalisierung nicht hinter dem Mond leben. Das Infotainmentsystem ist zwar eine Eigenentwicklung, nutzt aber Google Maps und den Google Assistant. Das System arbeitet sehr flink und auch das Cockpit ist logisch und cool aufgebaut. Über die Google-Services gibt es nicht viel zu sagen, sie sind einfach genial. Sehr lobenswert ist, dass Cadillac so richtig oldschool eine vollständige Klimaleiste zur Bedienung der Klimaanlage verbaut. Meine Meinung: Sieht schlicht und hochwertig aus und ist in puncto Bedienung ohnehin jedem Touchscreen überlegen. So muss es sein!

Leider hat Cadillac ausgerechnet bei der an sich so beispiellosen Bedienung zwei riesige Patzer geschossen. Es ist eigentlich sehr lobenswert, dass die Amis zur redundanten Bedienung des Infotainmentsystems einen Dreh-Drücker anbieten. Nur hat dieses recht zentrale und wichtige Bedienelemente offenbar die Qualitätskontrolle versäumt. Gefühl und Haptik des Drückers sind unterirdisch, nicht mal Dacia würde so etwas verbauen. Der zweite Patzer betrifft die Auswahl des Fahrmodus – das kann nur umständlich via Touchscreen vorgenommen werden. Da fehlt definitiv ein physischer Schalter.

Der geborene Cruiser
Und wie fährt sich der Lyriq nun? Was für eine Frage, schliesslich eilt der Ruf von Cadillac diesbezüglich fast schon voraus! Entsprechend ist es denn auch: Der knapp 2,7 Tonnen schwere Koloss fährt sich ruhig, besonnen, sehr weich und ausgesprochen gemütlich. Die hohen Erwartungen an einen feudalen Fahrkomfort werden vollumfänglich erfüllt. Interessant ist, dass der Lyriq über kein Luftfahrwerk verfügt, sondern über ganz konventionelle Dämpfer ein sehr hohes Komfort- und Federungsniveau erzielt. Was das elektrische Fahrerlebnis betrifft, so fühlt sich die Leistung im standardmässigen Tour-Modus nicht so üppig an, wie es das Datenblatt vermuten lässt. In diesem Modus ist der Cadillac Lyriq wirklich Gleiter durch und durch. One-Pedal-Driving lässt sich mittels zwei Rekuperationsstufen ein- oder ausschalten. Ist es ausgeschaltet, fährt sich der Lyriq bezüglich Gas loslassen ähnlich wie ein Verbrenner. Speziell: An der linken Seite vom Lenkrad befindet sich eine Schaltwippe, um spontan und manuell jederzeit mit voller Leistung zu rekuperieren. So kann man auch ohne One-Pedal-Drive mit der Wippe das Maximum aus der Rekuperation herausholen, wenn es sich gerade anbietet.

Ein paar Details bezüglich Fahrfeeling sind mir überdies noch aufgefallen. Positiv hervorzuheben ist der extrem niedrige Geräuschpegel im Innenraum, der durch eine konsequente Dämmung sowie aktives Noise-Cancelling erreicht wird. Der Lyriq ist echt auffällig leise, die Ruhe im Innenraum ist nicht nur Premium, sondern ganz hohe Oberklasse. Auch die Lenkung ist mir aufgefallen, die typisch amerikanisch agiert, sprich: Sie ist sehr indirekt. Präzision geht anders und im Kreisverkehr braucht es gut und gerne eine ganze Umdrehung oder sogar noch mehr, wenn man zur dritten Ausfahrt möchte. Muss man mögen, mein Stil ist so eine Lenkung nicht. Zu guter Letzt ist mir noch die Bremsanlage aufgefallen. Sie stammt von Brembo und passt eigentlich im positiven Sinne so gar nicht zum gemütlichen Lyriq. Sie liefert nämlich einen exakten Druckpunkt, hohes Feedback, bissige Bremsleistung und immense Belastbarkeit. Diese Bremsanlage würde ohne weiteres jedes Performance-SUV bereichern, was der Lyriq nun bei weitem nicht ist (eine V-Version ist aber on the way).

Positive und negative Überraschungen
Im Sport-Modus wird das Auto zumindest antriebstechnisch deutlich wacher und die Leistung wird jetzt auch deutlich spürbar. Interessant ist, dass der Lyriq nicht mit dem typischen Elektro-Kick losstürmt, sondern die Leistung wie ein Verbrenner kontinuierlich steigert. Ein anderer Ansatz und mir persönlich gefällt er. Es zeigt auch, dass Cadillac klar von der «alten» Welt stammt, und das ist jetzt nicht wertend gemeint, aber anstatt wie alle anderen Elektroautos einfach drauf loszustürmen, schafft es der Hersteller, diesem Aspekt einen eigenen Charakter zu implementieren. Kraft ist in jedem Fall mehr als ausreichend vorhanden und die erwähnte Bremsanlage ist auch stets Herr über diese Kraft, doch Fahrwerk und Lenkung bleiben halt sehr amerikanisch. Wer Fahrfreude im klassischen Sinn sucht, ist hier an der falschen Adresse, aber ganz ehrlich: Das weiss man und Cadillac macht diesbezüglich auch keine falschen Versprechungen. Ob der Lyriq V diesbezüglich abliefert, wird eventuell ein späterer Test zeigen.

Etwas, das man halt immer noch mit Cadillac assoziiert – und in Europa nicht verkaufsfördernd ist – sind hohe Verbräuche. Das haben sich die Amis aber ein Stück weit selbst eingebrockt, denn bei allem Respekt: Sparsamkeit war noch nie eine Tugend von Cadillac. Doch den Elektroantrieb haben die Amis lustigerweise im Griff. Im Test resultierte ein Verbrauch von 23,8 kWh/100 km – zwar nicht der Vorzeigewert schlechthin, aber für die gebotene Leistung und das hohe Gewicht dennoch ein sehr respektabler Wert. Mit der üppigen Batterie ist somit eine Praxis-Reichweite von rund 460 Kilometer realisierbar. Top! Beim Nachladen bewegt sich der Lyriq mit 190 kW Maximalleistung im Mittelfeld.

Zum Schluss muss ich nun leider noch das Trauerkapitel Assistenzsysteme eröffnen, was den ansonsten durchwegs positiven Eindruck stark trübt. Kurioserweise ist der nervige Tempopolizist ISA im Cadillac nicht verbaut (soll allen recht sein). Ferner ist der Spurhalteassistent per dedizierten Knopfdruck stummzuschalten, zwar nach jedem Motorstart erneut, aber immerhin. Das ist aber auch das einzig Positive. Beim Rest hat Cadillac grossen Nachholbedarf. Der Abstandstempomat: Ist mehrmals negativ durch Phantombremsungen aufgefallen. Weit und breit nichts und niemand, aber gebremst wird trotzdem. Der Tot-Winkel-Warner: Leuchtet fast dauernd, wenn eine Leitplanke oder eine Tunnelwand sich links oder rechts vom Auto befindet. Das adaptive Fernlicht ist im Test sogar komplett (also permanent) ausgestiegen, was als Besitzer einen Werkstattaufenthalt bedeuten würde. Den Vogel abgeschossen hat der Notbrems- und Kreuzungsassistent. Ich habe keine Liste geführt, aber ich bin während des Tests ungefähr 30 Mal angepiepst worden – ich übertreibe nicht, das ist ungeschönte Wahrheit. Und nein, es war in keinem der 30 Fälle eine kritische Situation.

Eigentlich attraktiv…
Was bleibt? Grundsätzlich ein gelungenes Auto. Cadillac bleibt seinem Ruf bei den positiven Aspekten treu und baut ein schickes, ausgesprochen ruhiges und komfortables Elektroauto. Der Verbrauch ist im positiven Sinne untypisch für Cadillac und die steigende Kraftentfaltung verschafft dem Auto einen eigenen Charakter. Preislich liegt der Testwagen bei rund 97’000 Franken. Klar, Cadillac war noch nie günstig und wird es auch nie sein, aber wenn man ausschliesslich das Premium-Segment betrachtet, dann ist der Lyriq ein interessantes Angebot. Und so könnte es eigentlich enden, aber dieses Assistenz-Fiasko kann man nicht auf Kunden loslassen, das ist Prototypen-Stadium. Ich hoffe inständig für Cadillac, dass ich das sprichwörtliche Montagsauto hatte, ansonsten muss hier dringend nachgebessert werden. Sonst bleibt Cadillac in Europa das, was sie schon immer gewesen sind: Der seltene Exot, der sich nie durchsetzen wird.

Alltag 
Üppige Platzverhältnisse, viele Ablagemöglichkeiten, ein doppelter Boden im Kofferraum und eine perfekte 360-Grad-Kamera machen den Lyriq zum Alltagshelden. Die Anhängelast beträgt immerhin 1,6 Tonnen.
Fahrdynamik 
Die steigende Kraftentfaltung fühlt sich sportlich an und die Brembo-Bremse ist es. Ansonsten ist der Lyriq aber der Cruiser, der sich nicht wohlfühlt, wenn er unnatürlich stark gescheucht wird.
Umwelt 
Der Verbrauch von 23,8 kWh/100 km geht absolut in Ordnung für Grösse, Gewicht und Leistung. Dennoch: Es bleibt ein stark ressourcendfressendes Elektroauto, auch bei gemässigtem Verbrauch.
Ausstrahlung 
Im abgebildeten Rot fällt der Lyriq extrem auf. Das Heck ist zwar eigenwillig und Geschmackssache, aber man kann den Amis nun wahrlich nicht vorwerfen, dass sie kein eigenständiges Design pflegen.
Fazit 
+ Extravagantes Design
+ Üppige Platzverhältnisse, luftiges Raumgefühl
+ Sehr hochwertige Verarbeitung, gediegene Materialien
+ Durchdachte Bedienung
+ Exzellentes Infotainmentsystem
+ Sehr bequeme Sitze, aber haltarm und nur ein Massageprogramm
+ Aussergewöhnlich niedriger Geräuschpegel im Innenraum
+ Vorzüglicher Fahrkomfort
+ Aufbauende Kraftentfaltung
+ Präzise und leistungsfähige Brembo-Bremse
+ Akzeptabler Verbrauch
+ Hohe Reichweite
+ Fürs Premium-Segment fairer Preis
– Ausgesprochen unzuverlässige Assistenzsysteme
– Sehr hohes Gewicht
– Diffuse Lenkung
– Dreh-Drück-Schalter von fürchterlicher Qualität
– Sitze praktisch ohne Seitenhalt
Mängel am Testwagen
– Ausfall vom automatischen Fernlicht
Steckbrief
Marke / Modell | Cadillac Lyriq |
---|---|
Preis Basismodell / Testwagen | 90 100 CHF / 97 050 CHF |
Antrieb | Elektrisch, Allradantrieb |
Akkukapazität | k.A. kWh (brutto) / 102 kWh (netto) |
Max. Leistung | 388 kW |
Max. Drehmoment | 610 Nm |
Beschleunigung 0-100km/h | 5,3 s |
Vmax | 210 km/h (elektronisch abgeregelt) |
WLTP-Verbrauch / Energieeffizienz | 22,5 kWh/100 km / D |
Test-Verbrauch / Differenz | 23,8 kWh/100 km / +6% |
WLTP-Reichweite | 530 km |
Ø Test-Reichweite | 460 km |
Max. Ladeleistung (DC) | 190 kW |
Länge / Breite / Höhe | 5,01 m / 1,98 m / 1,62 m |
Leergewicht | 2700 kg |
Kofferraumvolumen | 588 - 1687 l |





























Bilder: Koray Dollenmeier