Mangelnden Mut kann man Ford definitiv nicht vorwerfen. Sie stellen erfolgreiche Baureihe wie Fiesta, Focus und Mondeo ein und versuchen ihr Glück mit einer neuen Nische: Sie importieren den Ford F-150 Lightning als Full-Size-Truck und zwar als reinen Stromer. Als wäre das Auto an und für sich nicht nur Lücke genug. Der Pick-up-reisst gleich mehrere Superlative im Bereich der Elektroautos an sich, allerdings kann der Wagen gleich aus zweierlei Gründen sein Potenzial nicht voll ausreizen.
Obwohl der F-150 Lightning nicht die brachiale Optik eines Raptor-Modells trägt, wirkt er hierzulande einfach maximal massiv. Seine Dimensionen sprengen ziemlich alles und mit einer Länge von 5,91 Meter passt er auch nicht in normale Parkfelder. Mit einer Höhe von 1,99 Meter überragt er ausserdem auch alle SUVs und ist gerade noch so Parkhaus-tauglich. Markant sind die durchgehenden Lichter vorne wie hinten, das massive Trittbrett, der grosse Lightning-Schriftzug sowie der grosse, voll verkleidete “Kühlergrill”.
Umbau in Köln
Eine EU-Version des Riesen-Trucks gibt es nicht, weshalb Ford Europe die US-Version importiert und in Köln für den europäischen Markt umrüstet. Dazu gehören das europäische Sync-Infotainmentsystem, andere Ladestecker und ein neuer Wechselrichter, orangefarbene Blinker, Reflektoren, neue Steckdose (dazu später mehr) und als Krönung der Rammbügel aus massivem Stahl an der Front. Dieser ist notwendig, um die EU-Fussgängerschutznormen einzuhalten. Fragt einfach nicht.
Geräumige und vielseitige Kabine
Entsprechend der Grösse des Autos ist auch die Doppelkabine sehr grosszügig ausgelegt. Man sitzt nicht nur sehr komfortabel (und hoch!), sondern spürt auf allen Plätzen die verschwenderische Breite des Autos, kein Körperteil stösst sich irgendwo, es ist wirklich Platz en masse vorhanden. Ford gibt sich Mühe, ein hochwertiges Ambiente zu generieren und die verwendeten Materialien schaffen es auch, ein PW-Gefühl zu geben, nichts wirkt rustikal. Allerdings ist die Verarbeitungsqualität weit unterhalb von dem, was man für den Schweizer Preis von 127’000 Franken erwarten darf. Natürlich erwarte ich in einem Truck keinen Luxus, aber es knarzt schon vieles, wenn man es anfasst.
Was dagegen mehr Priorität genossen hat, ist der Nutzwert. Der wird unter anderem durch zahlreiche Ablageflächen ermöglicht, aber nicht nur. Die hinteren Sitze lassen sich mit einem Handgriff wie im Kino aufklappen, sodass praktisch der gesamte hintere Fond für Ladung verwendet werden kann. Apropos Ladung: Da ein klassischer Motor fehlt, steckt unter der Fronthaube ein riesiger Frunk mit rund 400 Litern Volumen und doppeltem Boden. Die Ladefläche ist mit einer robusten Wanne ausgekleidet und auf der Innenseite der Ladeluke ist ein Massstab eingraviert. Zahlreiche Steckdosen in der Fahrgastkabine, im Frunk oder der Ladefläche erlauben das Anschliessen von elektrischen Geräten. Ein Traum für mobil arbeitende Handwerker! Ein nettes Gadget ist ausserdem die Möglichkeit, in der Mittelkonsole einen kleinen Tisch zu schaffen, um kurz notwendige Schreibarbeit zu erledigen.
Überragender Fahrkomfort
Alleine der Einstieg in die Kabine ist spektakulär, da man das robuste Trittbrett tatsächlich benötigt, um den Wagen zu ernten. Die Sitzposition ist mehr LWK denn Auto und beim Rangieren fühlt man sich bei den hiesigen Platzverhältnissen wahrlich leicht beengt. Europäische Parkhäuser sind definitiv nicht das Revier des leisen Riesen, innerstädtisches Geläuf ebenfalls nicht; in Zürich erntet man bisweilen erstaunte und skeptische Blicke, wenn man mit dem Trumm unterwegs ist. Wohl aus Selbstschutz fahren Velofahrer aber weniger asozial, wenn man mit dem Pick-up unterwegs ist. Überdies stellen Temposchwelle jeglicher Bauart nicht mal ansatzweise einen Grund dar, im F 150 Lightning das Tempo zu drosseln. Insofern gibt es sogar innerorts ein paar Vorteile zu berichten.
Auf der Landstrasse sowie der Autobahn ist der Komfort sensationell. Das Fahrwerk mit üppig dimensioniertem Federweg schluckt Unebenheiten einfach weg. Obwohl die All-Terrain-Reifen einen rechten Radau verursachen und die Karosserie nur mässig aerodynamisch optimiert ist, halten sich die Geräusche im Innenraum in Grenzen. Assistenzsysteme wie Fernlichtautomatik, Abstandstempomat, 360°-Kamera sowie Tot-Winkel-Warner komplettieren das Komfort-Paket. Potenziell nervtötende Piepser sind übrigens nicht verbaut: Da es sich im Grunde um ein US-Modell handelt, ist ISA für den Truck ein Fremdwort, ein Kollisionswarner ist ebenfalls nicht verbaut und der Spurhalteassistent lässt sich für alle Ewigkeiten stumm schalten. Ach, was waren das Zeiten, als noch jedes Auto so simpel gestrickt war.
Massive Kraft
Der Allrad-Truck verfügt über 337 kW Leistung und üppige 1050 Nm Drehmoment. Insbesondere letztere sorgen für ein überaus schwungvolles Anfahren, wobei bei etwas Übermut auch durchdrehende Räder möglich sind. Der Durchzug im niedrigeren Tempobereich bis rund 80 km/h ist angesichts der Grösse und des Gewichts von leer 2,9 Tonnen irre und ein garantierter Spass-Faktor. Darüber hinaus wird es dann allerdings etwas gemütlicher, da die nominell recht hohe Leistung vom Gewicht und vor allem des Luft- und Rollwiderstands egalisiert wird. Nichtsdestotrotz kann man auch auf der Strasse im Sport-Modus ein riesen Gaudi haben. In besagtem Fahrmodus wird die Lenkung schwergängiger und das Gaspedal richtig aggressiv. Ausserdem ist der Grip trotz Offroad-Reifen überraschend gut auf Asphalt, während der Schwerpunkt aufgrund des Akkus viel niedriger ist als bei Pick-ups sonst üblich.
Dabei handelt es sich hier sogar um das schwächere Modell. In den USA wird auch noch eine stärkere Variante mit 433 kW mit identischem Drehmoment, aber mit grösserer Batterie (131 statt wie im Testwagen mit 98 kWh) angeboten. Der Grund, warum Ford nur die “kleinere” Variante importiert, ist das Gewicht. Der Testwagen verfügt über ein Gesamtgewicht von 3500 kg und kann auch 3,5 Tonnen an den Haken nehmen – absolut einzigartig im Segment der Elektroautos. In den USA sind mit der stärkeren Variante sogar bis zu 4,5 Tonnen Anhängelast möglich. Was die Vielseitigkeit angeht, ist der F-150-Lightning praktisch konkurrenzlos. Kein anderer Stromer kann so viel schleppen und ziehen und im Gelände könnte wohl höchsten der Mhero 1 dem Ford Konkurrenz machen.
Das ewige Reichweiten-Problem
Ich muss wieder einmal das leidige Thema Reichweite ansprechen. Nach WLTP verspricht Ford 427 Kilometer. Selbst ich Test, wo das Auto mehrheitlich leer, gefahren wurde, erzielte ich nur rund 280 Kilometer Reichweite. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie weit das Auto mit einem 3,5 Tonnen schweren Anhänger noch kommen würde. Ich vermute mal, 150 Kilometer maximal. Das ist dann doch eher armselig. Als Arbeitstier, der zwar viel, aber nie weit schleppen muss, ist der F-150 Lightning optimal. Als Reisewagen für Abenteurer, die gerne die raue Natur mit allem im Schlepptau entdecken, ist das Auto aber sowas von unbrauchbar – es sei denn, man nutzt die Ladefläche, um einen Dieselgenerator samt Treibstoff zu transportieren.
Absolut einzigartig
Es gibt viele Argumente, die für den Elektro-Pick-up sprechen – vor allem hat der Schweizer Markt dem Ami absolut nichts entgegenzusetzen. Es könnte also definitiv Abnehmer für diese spannende Nische geben. Abgesehen vom praktischen Nutzen ist es auch einfach cool, so einen riesigen Kasten zu pilotieren. Wie erwähnt, leidet aber auch der Ford unter den typischen Reichweiten-Problemen. Ausserdem gibt es noch ein weiteres Problem und das ist der bereits am Rande erwähnte Preis: 127’000 Franken hat man nicht einfach so und gibt man wohl als wirtschaftlich denkender Mensch auch nicht für ein Arbeitsfahrzeug aus. Aufgrund des Imports und des Umbaus ist der Wagen unverhältnismässig teurer als in den USA, wo der Truck – und zwar mit grosser Batterie – in der gezeigten Lariat-Ausstattung für rund 79’000 Dollar und umgerechnet sogar nur etwa 70’000 Franken erhältlich ist. Der Zuschlag hierzulande ist also enorm, weshalb der Haben-Will-Faktor wohl genauso enorm sein muss.
Alltag
Der Ford F-150 Lightning ist an Nutzwerk kaum zu überbieten, einzig die Reichweite ist knapp. Ausserdem ist er manchmal für Schweizer Strassen schon arg gross.
Fahrdynamik
Insbesondere bis Landstrassentempo ist der Schub schwungvoll, ausserdem ist das Handling auf der Strasse weitaus weniger schwammig als angenommen. Die Offroad-Fähigkeiten sind überdies ausgeprägter als bei SUVs.
Umwelt
Klar ist die Elektro-Version aus umwelttechnischer Sicht besser aufgestellt als vergleichbare Verbrenner, doch der Stromverbrauch ist mit 33,3 kWh/100 km beträchtlich.
Ausstrahlung
Man kann den Elektro-Pick-up nicht übersehen und in unseren Breitengraden ist er wuchtig und ein riesiges, fahrendes Ausrufezeichen!
Fazit
+ Markantes Design als Statement
+ Gigantische Platzverhältnisse
+ Hohe Zuladung und Anhängelast
+ Riesiger Frunk
+ Schnelles und intuitives Infotainmentsystem
+ Vielzahl an Steckdosen
+ Hoher Fahrkomfort
+ Starker Durchzug
+ Gutes Onroad-Handling
+ Weitreichende Offroad-Fähigkeiten
+ Keine störenden Assistenzsysteme
– Verarbeitungsqualität teilweise verbesserungswürdig
– Hoher Preis
– Hoher Verbrauch
– Manchmal einfach zu gross
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Ford F-150 Lightning |
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Preis Basismodell / Testwagen | 127 000 CHF / 127 000 CHF |
Antrieb | Elektrisch, Allradantrieb |
Akkukapazität | k.A. kWh (brutto) / 98 kWh (netto) |
Max. Leistung | 337 kW |
Max. Drehmoment | 1050 Nm |
Beschleunigung 0–100 km/h | 4,5 s |
Vmax | 180 km/h (elektronisch abgeregelt) |
WLTP-Verbrauch / Energieeffizienz | k.A. |
Test-Verbrauch | 33,3 kWh/100 km |
WLTP-Reichweite | 427 km |
Ø Test-Reichweite | 280 km |
Max. Ladeleistung (DC) | 150 kW |
Länge / Breite / Höhe | 5,91 m / 2,03 m / 1,99 m |
Leergewicht | 2890 kg |
Kofferraumvolumen | 400 l Frunk |
Bilder: Koray Dollenmeier