Die Liste der Vorurteile ist lang. Protzkarre, Zuhälterschlitten, behäbige Kiste, Benzinvernichter, kann nur geradeaus, besteht nur aus Plastik. Selbstverständlich erfreut sich der Camaro auch einer grossen Fangemeinde, doch ausserhalb ebendieser stösst er – vorsichtig ausgedrückt – nicht gerade auf Gegenliebe. Es würde aber allen Skeptikern nicht schaden, eine ausgiebige Runde damit zu fahren. Dass dem Camaro sein verruchter Ruf vorauseilt, lässt sich mit seinem machomässigen Design zwar kaum ändern. Fahrdynamisch setzt das Muscle Car aber mehr als nur ein Ausrufezeichen, ganz zu schweigen vom Hormon-Cocktail, den dieser Traum zu einem Motor freisetzt!
Unverhohlener als der Camaro kann man seine Muckis nicht zur Schau stellen. Die kantige Schnauze mit gigantischen Kühlerschlunden und extrem schmalen Scheinwerfern dürfte manchem Kleinkind eine konkrete Vorstellung davon geben, wie das berühmt-berüchtigte Monster unter dem Bett ungefähr aussieht. Eine Halterung fürs Nummernschild? Pha, als ob sich ein Camaro mit solchen Banalitäten herumschlagen muss. Ergo wirkt das Kennzeichen etwas behelfsmässig an der Stossstange befestigt.

Die elegante Erscheinung überlässt der Bad Boy gerne anderen. Stattdessen wirkt seine Silhouette aufgrund der schmalen Fensterflächen besonders sportlich, während seine ausgestellten Kotflügel hinten keinen Hehl daraus machen, wie viel Kraft hier lauert. Geradezu dezent ist der Spoiler auf dem Heck. Die optionale Sportauspuffanlage mit vier Endrohren lässt dafür keinen Zweifel, dass der leise Auftritt nicht die grösste Stärke dieses Sportwagens ist.

Kann man Kraft greifbar machen? Der Camaro kann es. Mit einem wütenden Grollen meldet sich der V8 zum Dienst und wenn dieses Aggregat etwas nicht beherrscht, dann Laufruhe. Das ganze Auto zittert im Leerlauf angesichts des gewaltigen Triebwerks, das den ersten Gasstoss kaum zu erwarten scheint. Nochmal fürs Protokoll: Man dirigiert hier einen 6,2-Liter-Sauger. Noch grössere Sauger finden sich meines Wissens lediglich bei Ferrari oder Lamborghini. Alleine der Motor ist ein Kaufgrund, denn bereits in wenigen Jahren wird diese Art Motor leider Gottes Maschinenbau-Geschichte sein.

Es ist also keine schlechte Idee, sich respektvoll mit dem Gewalt- und Aggressionspotenzial dieses Autos vertraut zu machen. Die Übersicht nach vorne ist mässig, jene nach hinten nicht vorhanden, dafür ist die Karosserie ausufernd und die Sitzposition sehr tief. Wer das Gaspedal im Stand zu schnell betätigt, dem knallt der Kopf an die Kopfstütze, weil wir uns ein so bissiges Ansprechverhalten einfach nicht mehr gewohnt sind.

Wer unter Platzangst leidet, dürfte sich im Camaro ebenfalls ziemlich unwohl fühlen, denn trotz der gewaltigen Aussenmasse ist der Innenraum sehr eng geschnitten, selbst vorne. Das Auto umschliesst einen förmlich, Bewegungsfreiheit ist kaum vorhanden. Allerdings stimmt die Ergonomie und dass der Touchscreen leicht nach unten gerichtet ist, hängt gemäss Chevrolet mit der ansonsten zu starken Spiegelung zusammen. Die Armauflage auf der Mittelkonsole hat jedoch gehöriges Spiel und wer etwas lauter Musik hört, muss ein leises Scheppern aus dem Fond bei bassigen Tönen akzeptieren. Jedem Audi-Qualitätskontrolleur würde dies Tränen in die Augen treiben, doch ich möchte an dieser Stelle lieber den Rapper Sido zitieren:
«Scheissegal, uh
Das Gesetz bedeutet nichts für mich
Ich geb’ schon immer ‘n Fick drauf, was richtig ist!»
Allein diese drei Zeilen beschreiben schon ziemlich treffend das gesamte Auto. Etwas versteckt in einem Untermenü lässt sich nämlich der Motorsound individuell und unabhängig von den drei Fahrmodi «Tour», «Sport» und «Track» einstellen. So kann man die Klappenauspuffanlage unter anderem besonders leise schalten, doch viel prickelnder ist die Track-Einstellung. Ob der Gesetzgeber von diesem Untermenu weiss…? Ich bin mir ziemlich sicher, dass man sich in der Track-Einstellung auf öffentlichen Strassen juristisch gesehen in einer sehr dunkelgrauen Grauzone bewegt, obwohl die Auspuffanlage an sich serienmässig ist.

Bassig röhrt es bei tieferen Drehzahlen, steigert sich zunehmends in ein infernalisches Brüllen und beim Hochschalten schmettert es eine Fanfare aus dem Auspuff, so brutal wie ein Peitschenhieb. Ein Kollege wollte sich das von aussen anhören und hatte anschliessend für die nächsten fünf Minuten ein Pfeifen im Ohr, weil es so unglaublich laut ist. Es gilt deshalb, sich nicht erwischen zu lassen. Im Zweifelsfall etwas sachter mit dem Gaspedal umgehen. Dann bollert es zwar immer noch sehr V8-bassig, jedoch hört man es nicht gleich im Umkreis von zwei Kilometern.

Trotz des nur so von Kraft strotzenden Motors lässt sich das Ungetüm im Tour-Modus erstaunlich zurückhaltend fahren. Eine Anzeige im Cockpit informiert darüber, ob aktuell nur der halbe Motor im Einsatz ist, was erfreulich oft der Fall ist. Nicht nur Ortsdurchfahrten, sogar Tempo 130 kann der Camaro im V4-Modus halten, zumindest, solange es eben ist. Die 8-Gang Automatik haltet das Drehzahlniveau um die 1000 Touren und selbst die sich im Race-Modus befindliche Auspuffanlage bleibt unter 2000 Touren sozialverträglich. Cruisen? Gern, auch bis ans Ende der Welt.

Doch die eigentliche Faszination lauert in den beiden schärferen Fahrmodi Sport und Track, obwohl die Unterschiede marginal sind. Dieses Gefühl, wenn der V8-Reaktor Kraft aufbaut und sich der Schub immer mehr steigert und steigert ist einfach irre! Ausserdem ist er trotz bärigen 617 Nm sehr gut fahrbar, geradeaus braucht man selbst vom ersten Gang keine Angst zu haben, das Auto bringt die Kraft super auf den Asphalt.

Wobei, Angst ist hier sowieso fehl am Platz. Die Brembo-Bremsanlage ist den Auswüchsen des Motors jederzeit gewachsen und liefert auch bergab unter harten Bedingungen konstante Verzögerung. Besonders cool: Wird beim Anbremsen im manuellen Modus das linke Schaltpaddel gehalten, schaltet das Getriebe automatisch mehrere Gänge aufs Mal runter und wählt jenen mit der bestmöglichen Beschleunigung. Ist der Camaro mit dem optionalen Magnetic-Ride-Fahrwerk ausgerüstet, werden Roll- und Wankbewegungen aktiv vermindert, was zu einer Kurvenstabilität führt, die man angesichts des grobschlächtigen Auftretens nicht für möglich gehalten hätte!

Tatsächlich ist das Muscle Car sehr präzise zu lenken und lässt sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen. Mit dafür verantwortlich ist das Gewicht von 1734 Kilo, was zwar nicht besonders wenig ist, jedoch gibt es Kandidaten mit ähnlichen Abmessungen, die deutlich mehr Kilos mit sich herumschleppen. Ist das ESP aktiv, verhindert es sämtliche Heckausbrüche, was den Wagen sehr sicher macht. Ein Doppelklick auf die ESP-Taste aktiviert den Sport-Modus, was dem Heck zu deutlich mehr Lebendigkeit verhilft, ohne dass man gleich Schweissausbrüche bekommt. Lange gedrückt halten deaktiviert das ESP komplett, aber man muss sein Glück ja nicht unnötig herausfordern. Der Sport-Modus reicht auf der Strasse freilich.

Die Zeiten, in denen Muscle Cars übermotorisierte Heckschleudern waren, sind vorbei. Der Camaro ist zwar ein wandelnder Muskelberg, doch er kann mit der Kraft umgehen. An das Handlingtalent eines 911ers kommt er natürlich nicht heran, aber mit einem Jaguar F-Type könnte er es ohne weiteres aufnehmen, obwohl der Brite mit V8 mehr als das Doppelte kostet. Der Testwagen kostet nämlich nur 61’255 Franken – ein Schnäppchen, denn für dieses Geld gibt es eine automobile Ikone, die den grossvolumigen Sauger und dessen Sound zelebriert. Und was gibt es Schöneres, als Teil dieser Ikone zu werden?

Alltag 
Die ausufernde Karosserie sowie die schlechte Übersicht machen das Parkieren nicht gerade einfach. Die Rückbank ist zudem eng und nur kleinen Personen auf längeren Strecken zumutbar.
Fahrdynamik 
Der riesige Sauger verfügt über ein Ansprechverhalten sowie eine Durchschlagskraft, wie sie heute selten ist. Das adaptive Magnetic-Ride-Fahrwerk ermöglicht beeindruckende Kurventempi, die Traktion ist zudem viel besser, als man dem Camaro zutrauen würde.
Umwelt 
Anstatt einer nervigen Start-Stopp-Automatik verfügt der Camaro über eine unmerkliche Zylinderabschaltung, die sogar bei konstanten 130 km/h auf ebenen Strassen aktiv ist. Verbräuche unter 9 Liter sind locker möglich und selbst im alles andere als sparsam gefahrenen Test sind 11,8 l/100 km für so ein Hubraum-Monster gar nicht schlecht.
Ausstrahlung 
Der Camaro verfügt wortwörtlich über Ecken und Kanten. Ein echter Charaktertyp, der zeigt, was er zu bieten hat.
Fazit 
+ Unverkennbares Design
+ Sehr bequeme Sportsitze mit Kühlung und Heizung, tiefe Sitzposition
+ Ansprechende Materialien
+ Abartig geiler und lauter Motorsound, lässt sich auch leiser schalten
+ Toller Fahrkomfort
+ Motor,so kräftig und gnadenlos wie ein Abrissbirne
+ Ultradirektes Ansprechverhalten
+ Schnell schaltendes Getriebe, kann mehrere Gänge direkt runterschalten
+ Magentic-Ride Fahrwerk unterdrückt Wankbewegungen
+ Hohes Gripniveau, gute Traktion
+ Dreistufig deaktivierbares ESP
+ Fantastisches Preis-Leistungs-Niveau
+ Bei gemässigter Fahrweise akzeptable Verbräuche möglich
– Schlechte Übersicht
– Teilweise mässige Verarbeitungsqualität
– Kaum Assistenzsysteme erhältlich
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Chevrolet Camaro V8 |
---|---|
Preis Basismodell / Testwagen | 53 490 CHF / 61 255 CHF |
Antrieb | Benzin, Heckantrieb |
Hubraum / Zylinder | 6162 ccm / V8 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Frontmotor / Saugmotor |
Getriebe | 8-Gang Automatikgetriebe |
Max. Leistung | 333 kW bei 5700 r/min |
Max. Drehmoment | 617 Nm bei 4600 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 4,4 s |
Vmax | 290 km/h |
NEFZ-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 11,1 l/100 km / 252 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 11,8 l/100 km / 268 g/km / +6% |
Länge / Breite / Höhe | 4,78 m / 1,90 m / 1,34 m |
Länge / Breite / Höhe | 1734 kg |
Kofferraumvolumen | 257 l |
Bilder: Koray Adigüzel
1 thought on “American Bad Boy: Chevrolet Camaro”