Begehrenswert wird etwas meistens dann, wenn es nur noch selten ist. Analoge, puristische Fahrerlebnisse versprechen viele, abliefern tun dann aber nur die wenigsten. Selbst der normale Huracán Evo, ein Supersportwagen ohne Fahrassistenzsysteme, ist dennoch mit raffinierter Elektronik ausgerüstet um auf Rennstrecken möglichst effizient, sprich, schnell zu sein. Um jedoch das Fahren an sich in seiner reinsten und intensivsten Form geniessen zu können, kommt hier das perfekte Auto: Der Lamborghini Huracán Evo RWD Spyder, der seinen inbrünstigen V10-Sauger nur auf die Hinterachse loslässt. Endloser Spass oder Ritt auf der Rasierklinge? Zeit, das rauszufinden!
Alle lieben grosses Kino und der Motorstart des Huracán Evo ist ganz grosses Kino: Rote Klappe anheben, Startknopf drücken, der Anlasser sirrt und das Triebwerk brüllt wie ein ausgehungerter T-Rex! Wer dieses Prozedere nicht in der hinterletzten Provinz durchführt, ist unvermeidlich im Zentrum der Aufmerksamkeit – vor allem, wenn der Lamborghini in der dezenten Farbe «Arancio Antheus matt» lackiert ist. Schnell die Frisur im Rückspiegel checken während der eine oder andere Fan ein Foto schiesst, dann das rechte Paddel ziehen um den ersten Gang einzulegen und los.
Kleine optische Modifikationen
Dass es sich bei diesem Exemplar um die spassigere, wildere Variante des Huracán handelt, erkennt man nur als waschechter Kenner und Fan. Abgesehen von der kleinen Plakette «Huracán Evo RWD» vor den Hinterrädern unterscheidet sich nämlich sichtbar nur die Front vom Allradler. Als Spyder verschwindet das Stoffverdeck vollautomatisch innert 17 Sekunden bis zu Tempo 50 hinter den Sitzen. Leider kann sich so der Motor nicht mehr voller Stolz hinter einer Glasscheibe präsentieren.
Zahmer Stier on Tour
Im alltagstauglichen Strada-Modus bleibt die Adrenalin-Ausschüttung vorerst beschränkt. Mit schönem, aber sozialverträglichem Motorklang geniesst man die unmittelbare Nähe zur Strasse, die feinnervig ansprechende Lenkung sowie die bequemen, aber doch zupackenden Sitze mit elektrischer Verstellung und Sitzheizung. Für eine noch intensivere Verbindung zum Auto würde ich allerdings die manuellen Sportsitze empfehlen.
Jedenfalls ist der Huracán Evo RWD Spyder in diesem eher defensiven Fahrmodus voll alltagstauglich, nichts ruckelt oder zuckt, sondern die Fahrt läuft sehr geschmeidig ab. Das Doppelkupplungsgetriebe schaltet sehr schnell hoch und erst bei sehr offensivem Gaspedal-Umgang runter. Was für ein Biest dieses Auto ist, lässt sich im Strada-Modus kaum erfahren.
Basis oder besser?
Grundsätzlich ist der Evo RWD das Einstiegsmodell in die Sportwagen-Welt von Lamborghini. Im Gegensatz zum normalen Allrad-Evo fällt nämlich gleich einiges weg: Keramikbremse, magnetorheologische Stossdämpfer, Allradlenkung, variable Lenkung und das LDVI-System (Lamborghini Dinamica Veicolo Integrata), womit das Auto den nächsten Move des Fahrers zu antizipieren versucht und verschiedene Parameter des Autos darauf einstellt. Zu guter Letzt ist der V10-Sauger um 22 kW und 40 Nm schwächer, allerdings spart der Heckantrieb auch rund 60 Kilo Gewicht ein. Das wirkt sich natürlich nicht nur auf den Preis, sondern auch auf das Fahrfeeling aus, wobei Keramikbremse, magnetorheologische Stossdämpfer und die variable Lenkung beim heckgetriebenen Huracán als Option erhältlich sind. Im Testwagen sind lediglich die besseren Stossdämpfer optional verbaut.
Feuer frei!
Ob die soeben aufgezählten Tatsachen gut oder schlecht sind, lassen sich erst im Sport-Modus beurteilen. Erst dieser erweckt den Kampfstier im Huracán! Passender Gang über die feststehenden Schaltpaddels anwählen, Pedal to the metal und, oh mein Gott, dieser Sound! Der Hochdrehzahl-V10 kreischt sich die Seele aus seinen metallischen Eingeweiden und weckt Erinnerungen an die glorreichen Tage der Formel 1.
Die leicht geringere Leistung ist absolut nicht wahrzunehmen. Was dafür sehr wohl wahrzunehmen ist: Wie die extremen Kräfte auf die Hinterachse einwirken! Nichtsdestotrotz bleibt die offene Flunder auch bei plötzlichem Vollgas sehr stabil, Traktionsprobleme treten höchstens ganz kurz bei der Launch Control im Corsa-Modus auf.
Mittendrin statt nur dabei
Dass das Beschleunigen dank des intensiven Sounds bei offenem Dach den Rauschzustand vorprogrammiert, ist klar. Doch irgendwann naht die nächste Kurve und trotz konventionellen Stahlscheiben bremst der Huracán wie eine Wand, das Bremsgefühl ist fantastisch. Leichts aufs Gas, einlenken, mehr Gas, Lenkung lockern, Vollgas. Das Heck drückt einen sauber aus der Kurve, die Rückmeldung des Autos ist durch den Wegfall der Allradlenkung noch höher.
Langgezogene Kurven können dank ausgefeilter Aerodynamik problemlos mit hohem Tempo durchfahren werden. Wer eine saubere Linie fährt, hat keine bösen Überraschungen des Lambo zu befürchten. Wer leicht in die Kurve reinbremst und anschliessend früh beschleunigt, kann Powerslides provozieren, die dank des linear ansteigenden Drehmoments und der vorteilhaften Gewichtsverteilung einfach zu kontrollieren sind.
Das Spielzeug für grosse Jungs (und Mädchen)
Zugegeben, ich bin mit grösstem Respekt auf den Huracán Evo RWD zugegangen, doch schnell konnte ich riesiges Vertrauen aufbauen. Das Auto macht jederzeit genau das, was man von ihm will und erwartet und er ist das absolute Gegenteil einer hinterhältigen Heckschleuder. Nichtsdestotrotz ist sein Heck auf Wunsch lebendig und im Sport-Modus ist das ESP locker-flockig für grossen Spass auf der Landstrasse, greift aber trotzdem effektiv und bestimmend ein, wenn das Heck ausladender wird, als gewollt. Das Tüpfchen auf dem i wären programmierbare maximale Driftwinkel, das würde zu Lamborghini passen…
Mit seiner präzisen und doch auch wilden Art ist der Huracán Evo RWD Spyder eine aussterbende Gattung Autos. Er ist nicht auf höchste Performance oder Effektivität auf der Rennstrecke getrimmt, sondernd bietet inbesondere mit offenem Dach unter allen Bedingungen ein mitreissendes, hoch emotionales Fahrerlebnis, das den Fahrer in den Mittelpunkt stellt. Selbst bei Regen ist der Sound dank der separat zu bedienenden Heckscheibe sehr präsent und wer das Gaspedal nicht malträtiert, hat auch dann ein sicheres Fahrerlebnis mit einem permanenten Grinsen im Gesicht.
Das Beste ist, dass der heckgetriebene Huracán Evo ein gutes Stück günstiger ist als der Allradler, wobei das Spyder-Vergnügen wiederum mit happigen 25’000 Euro zu Buche schlägt. Unter dem Strich ist der Testwagen mit 248’000 Euro zuzüglich Steuern und Einfuhrgebühr angeschrieben. Doch ungeachtet seines hohen Preises ist der Huracán Evo RWD Spyder nur schon durch seine Existenz eine Wohltat für alle Autofans. Gut, hat Lamborghini ihn fest im Programm und macht nicht bloss eine limitierte Kleinserie daraus.
Alltag
Da dem Spyder die zusätzliche Ablagemöglichkeit hinter den Sitzen fehlt, bleibt nur der winzige Kofferraum vorne und der reicht wirklich nicht weit. Es empfiehlt sich daher, nicht nur den Huracán Evo RWD Spyder im Fuhrpark zu haben…
Fahrdynamik
Etwas weniger perfektionistisch als der normale Huracán Evo entfaltet der heckgetriebene Supersportler dank grösserer Authentizität und ultrafein dosierbarem Kraftfluss am Heck eine Faszination der anderen Art. Die Lenkung ist durch den Entfall der Allradlenkung noch natürlicher und das Heck ist trotz der ungestümen Kraft gut zu kontrollieren. Ob fein slidend oder in einer sauberen Linie aus der Kurve zu schiessen, obliegt ganz dem Fahrer!
Umwelt
Im Strada-Modus zügeln die defensive Schaltlogik, die Start-Stopp-Automatik sowie die Zylinderabschaltung den Durst, Werte um die 10,0 l/100 km sind dann realistisch. Doch bei voller Kraft voraus wird ordentlich Benzin verfeuert, im Test schlussendlich 14,8 l/100 km, knapp über dem bereits sehr hohen Normverbrauch.
Ausstrahlung
Das aggressive und extrem auffällige Design spricht Bände. Wo immer man mit dem Lambo vorfährt, man zieht sämtliche Blicke auf sich!
Fazit
+ Unglaublich aggressives und flaches Styling
+ Sehr hohes Mass an Individualisierung
+ Straffe, haltstarke Sitze mit Langstrecken-Komfort
+ Feinste Materialien im Innenraum, alles perfekt verarbeitet
+ Modernes, schnell reagierendes Infotainmentsystem mit Online-Navigation und Smartphone-Integration
+ Druckvolle und fein klingende Soundanlage
+ Unkomplizierte Handhabung im alltäglichen Gebrauch, auch dank Liftsystem an der Vorderachse
+ Extrem drehfreudiger Motor mit unschlagbar direktem Ansprecherhalten
+ Perfektioniertes Fahrwerk mit ausreichend Komfort und irrer Stabilität
+ Unglaublich voluminöser Sound, der heutzutage äusserst selten geworden ist
+ Ultra-direkte Lenkung mit feinfühliger Rückmeldung
+ Sehr schnell reagierendes Doppelkupplungsgetriebe, traumhafte Schaltpaddels
+ Entfesselndes und doch gut kontrollierbares Fahrfeeling dank Heckantrieb
+ Keine piepsenden und reinfunkenden Assistenzsysteme
– Ergonomie ab einer Körpergrösse von 1,85 Metern nicht mehr gewährleistet
– Hoher Verbrauch
– Optionale Ausstattung und Individualisierung gehen sehr stark ins Geld
– Billige Schalter auf dem Lenkrad
– So gut wie kein Platz für Gepäck
Mängel am Testwagen
– Keine Mängel
Steckbrief
Marke / Modell | Lamborghini Huracán Evo Spyder RWD |
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Preis Basismodell / Testwagen | 189 000 € / 248 000 € zuzüglich Einfuhr und Steuern |
Antrieb | Benzin, Heckantrieb |
Hubraum / Zylinder | 5204 ccm / V10 |
Motoranordnung / Motorkonzept | Mittelmotor / Saugmotor |
Getriebe | 7-Gang Doppelkupplungsgetriebe |
Max. Leistung | 449 kW bei 8000 r/min |
Max. Drehmoment | 560 Nm bei 6500 r/min |
Beschleunigung 0–100 km/h | 3,5 s |
Vmax | 324 km/h |
WLTP-Verbrauch / CO2 Emissionen / Energieeffizienz | 13,9 l/100 km / 337 g/km / G |
Test-Verbrauch / CO2 Emissionen / Differenz | 14,8 l/100 km / 359 g/km / +6% |
Länge / Breite / Höhe | 4,52 m / 1,93 m / 1,18 m |
Leergewicht | 1509 kg (trocken) |
Kofferraumvolumen | 100 l |
Bilder: Vesa Eskola